Justizreform soll Montag kommen "In Israel wächst die Angst vor einem Bürgerkrieg"
23.07.2023, 10:04 Uhr Artikel anhören
Je näher der Tag der Entscheidung über die Justizreform rückt, desto aufgeheizter ist die Stimmung auf Israels Straßen. Viele Israelis fürchten sich vor einem Bürgerkrieg.
(Foto: IMAGO/ZUMA Wire)
Israel droht dieser Tage aus Sicht vieler Israelis nicht weniger als die Abschaffung der Demokratie. Die Regierung von Premier Benjamin Netanjahu will ein Gesetz verabschieden, das dem Obersten Gerichtshof die Möglichkeit nimmt, gegen Entscheidungen der Regierung vorzugehen - auch wenn diese willkürlich wären, korrupt, oder sogar Verstöße gegen die Menschenrechte. Netanjahus Koalition wäre dann nicht mehr zu stoppen. Eine Mehrheit der Israelis ist gegen das Gesetz, viele Bürger kämpfen dagegen. Israel-Experte und Buchautor Richard C. Schneider über die letzten Stunden vor der befürchteten Entscheidung und die wachsende Angst vor einem Bürgerkrieg.
ntv.de: Herr Schneider, die erste Lesung hat das geplante Gesetz bereits passiert. Wann wird die finale Entscheidung fallen?
Richard C. Schneider: Niemand kann das derzeit wirklich vorhersehen. Seit heute Früh debattiert das Parlament über die Reform, die Abstimmung ist derzeit für morgen geplant. Es ist aber nicht gesagt, dass das auch passiert. Es kann zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen kommen und alles wird wieder gestoppt. Oder sie peitschen alles noch heute durch, zumindest theoretisch wäre das möglich.
Das gibt die Gesetzeslage her?
Ja, das ist eine gesetzliche Regelung. Die Regierung kann in der Knesset, also dem Parlament, innerhalb von vier Stunden die zweite und dritte Lesung machen. Dann ist das Gesetz durch. Die Frage ist: Kann sie noch gestoppt werden?
Richard C. Schneider lebt als Buch- und Fernsehautor in Tel Aviv und war dort viele Jahre ARD-Studioleiter und Chefkorrespondent. Sein neuestes Buch "Die Sache mit Israel" beleuchtet fünf Fragen zu einem komplizierten Land.
(Foto: Jonas Operskalski)
Wodurch könnte sie denn jetzt noch gestoppt werden?
Am Freitag haben 1000 Piloten, Navigatoren und andere Kräfte aus der Luftwaffe gesagt: “Wir treten nicht mehr an”, falls die Regierung die Justizreform beschließt. Das wäre dann eine Situation, in der die Luftwaffe so geschwächt wäre, dass es Israels Sicherheit gefährdet. Es könnte noch mehr Verweigerung kommen. Es gibt ja mittlerweile schon fast 15.000 Leute, die gesagt haben: “Wir kommen nicht mehr.”
Seit Wochen protestieren die Israelis in großer Zahl, besetzen Kreuzungen, streiken, versuchen, das öffentliche Leben lahmzulegen. Entspricht dieser massive Aufschrei der Bedrohlichkeit der Gesetzespläne?
Ganz offensichtlich wird das als eine solche Bedrohung gesehen. In Umfragen hat sich gezeigt, dass auch unter den Rechten, die der Regierung nahe stehen, der Anteil sehr groß ist, die sagen, “Wir wollen das politisch-demokratische System bewahren”. Die Bedrohung, die von der Reform ausgeht, erscheint vielen Menschen so massiv, dass dieses Momentum des Protestes nun schon seit Monaten besteht - mit einer unglaublichen Kraftanstrengung und Energie.
Könnten auch diese Proteste, die in dieser Woche nochmal intensiver geworden sind, das Gesetz noch verhindern? Oder irgendein anderer Einfluss?
Die Demonstrationen könnten so gewalttätig werden, dass es in Richtung Bürgerkrieg ginge und die Regierung gezwungen wäre, irgendwas zu tun. Es kann aus Amerika ein solcher Druck kommen, mit irgendeiner Androhung, so dass Netanjahu sich das noch einmal überlegt. Es gibt ganz viele Möglichkeiten. Es können einige Regierungsmitglieder eskalieren und Netanjahu so lange beschwören, bis er doch wieder sagt, das geht alles nicht.
Halten Sie Netanjahu noch für empfänglich für Argumente?
Am Donnerstagabend hat er eine Rede gehalten, und es wurde deutlich, wie entschlossen Netanjahu ist. Wild entschlossen, das durchzuziehen. Ob man ihn noch stoppen kann, ist im Moment schwer absehbar.
Als die Gesetzespläne im Frühjahr erst einmal wieder auf Eis gelegt wurden, waren die Proteste und Drohungen aus der Armee ein zentrales Argument dafür, das Vorhaben zu stoppen. Weil Israel von außen so bedroht wird, dass Sicherheit an erster Stelle steht. Jetzt wollen noch viel mehr Militärs ihren Dienst quittieren.
Ja, allerdings hat Netanjahu gesagt, dass ihn das nicht interessiert. Er hat ja auch dieses wahnsinnige Problem: Wenn er diese Reform jetzt ein zweites Mal stoppt, dann fliegt ihm seine Koalition um die Ohren. Und wenn die Koalition auseinander fliegt, dann ist er die längste Zeit Premier gewesen. Ist er aber nicht mehr Premier, dann wird der Korruptionsprozess gegen ihn ganz normal weitergeführt werden. Und die Gefahr, dass er endgültig verurteilt wird, besteht. Netanjahu hat also sich selbst und die ganze Regierung in eine Ecke bugsiert, in der er nur noch zwischen Pest und Cholera wählen kann.
Und sein persönliches Schicksal ist damit verbunden?
Sein persönliches Schicksal ist mittlerweile wirklich sehr direkt damit verbunden.
Wenn ein Begriff wie "Bürgerkrieg" in der Berichterstattung immer wieder auftaucht, haben Sie ein Gefühl dafür, wie konkret diese Gefahr ist? Schrecken die Protestierenden noch zurück oder entwickelt sich die Intensität der Demonstrationen schon in diese Richtung?
Die Protestbewegung betont immer und immer wieder, sie werde alles unternehmen, was gewaltloser Widerstand und im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten ist. Jüngst ist allerdings die Polizei immer aggressiver vorgegangen gegen die Demonstrierenden. Und wenn die Leute angegriffen werden, dann kann natürlich im Eifer des Gefechts auch mal jemand zurückschlagen. Und je näher der Termin rückt, desto klarer wird es den Bürgern, dass möglicherweise in wenigen Tagen die Demokratie in Israel zunächst einmal aufhört zu existieren.
Haben die Israelis selbst Angst vor einem Bürgerkrieg?
Diese Angst wird in Israel immer größer, auf allen Seiten. Es kann ja ein Funke genügen, dann explodiert das Ganze. Dann bricht wirklich Gewalt aus. Bislang war es vor allem die Rechte, die aggressiv und gewalttätig auftrat. Lassen Sie eine Gegendemonstration von Ultrarechten so gewalttätig werden, dass linksliberale Demonstranten zusammengeschlagen werden. Lassen Sie es nur einen einzigen Toten geben in der Auseinandersetzung. Dann ist das alles völlig unkontrollierbar.
Hat auch die Regierung Angst vor einem Bürgerkrieg?
Ja, natürlich. Alle haben Angst, dass es zum Bürgerkrieg kommt.
Wenn aber doch aufgrund der massiven Proteste, als Netanjahu im Frühjahr schon versucht hat, dieses Gesetz durchzubringen, absehbar war, dass es brandgefährlich würde, dieses Fass wieder aufzumachen, warum hat er das getan?
Weil er es nie zugemacht hat. Das war eine Fehlvorstellung. Er hat diese Pläne im Frühjahr auf Eis gelegt, weil er sie nicht durchsetzen konnte. Aber er hat eigentlich nie gesagt, das Ding ist vom Tisch. Seine Aussage war, das sei die Entscheidung für den Moment, "aber wir kommen schon wieder dazu". Also ist die Reform nie wirklich vom Tisch gewesen.
Aber er hatte doch keinen Grund zu unterschätzen, wie stark der Widerstand in der israelischen Gesellschaft sein würde.
Doch hatte er. Er hat genau das unterschätzt. Und er hat auch am Donnerstag mit seiner Rede neuerlich bewiesen, dass er nicht mehr kapiert, wie die Lage draußen ist. Er versteht nicht mehr, dass so eine Rede die Leute nur noch wütender macht. Wie man es häufig bei Politikern erlebt, die schon sehr lange an der Macht sind, hat auch Netanjahu nur noch eine Entourage um sich herum, die ihm erzählt, was er hören will und die vieles filtern. Das Gespür für die Stimmung im Land hat Netanjahu verloren.
Mit Richard C. Schneider sprach Frauke Niemeyer
Quelle: ntv.de
