Politik

"Wir kämpften um unser Leben" Die Hamas-Pogrome haben ein Trauma hinterlassen

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Nach der Hamas-Offensive stehen viele Israelis unter Schock. "Es war, als ob der Staat Israel aufhörte zu existieren", sagt einer. Denn der Staat konnte sein Versprechen nicht halten, die eigenen Bürger zu schützen.

Kurz nach den Feierlichkeiten zum 26. Jahrestag der Staatsgründung Israels ereignete sich im Norden, unweit der libanesischen Grenze, ein Massaker. Am 15. Mai 1974 durchbrachen palästinensische Terroristen den Trennzaun zwischen beiden Staaten, besetzten eine Schule in der Ortschaft Ma'alot und nahmen rund 100 Schüler und Lehrer als Geiseln. Die Befreiungsaktion der israelischen Streitkräfte (IDF) misslang: Die Terroristen zündeten mehrere Sprengfallen, töteten 31 Menschen und verletzten mehr als 60. Es war der bis dahin blutigste Terroranschlag in der Geschichte Israels.

Unter den Verletzten war damals auch Sharon Agassi. Nach dem Anschlag zog er in den Süden des Landes, in den Kibbuz Zikim, der wenige Kilometer nördlich des Gazastreifens am Mittelmeer liegt. Am 7. Oktober erlebte der heute 61 Jahre alte Landwirt dort einen weiteren Angriff von palästinensischen Terroristen - erneut den bis dahin blutigsten in der Geschichte des Landes.

"Es herrschte das reine Chaos"

Nach Angaben der israelischen Marine landeten an jenem Samstag um 05.00 Uhr morgens Kleinboote mit über 100 schwer bewaffneten Hamas-Terroristen am Strand von Zikim. Zwar konnten die Seestreitkräfte zahlreiche von ihnen ausschalten, dennoch schafften es einige zum dortigen Ausbildungsstützpunkt der IDF, griffen die Kaserne an und nahmen sie einige Stunden später ein. Andere Hamas-Kämpfer griffen die nahegelegenen Städte an. "Ich sah das Pogrom der Hamas in unserem Kibbuz und wie sie dort auf alles schossen", erzählt Agassi, der früher als Major in der IDF diente. "Mit ehemaligen Reserveoffizieren habe ich mich ihnen entgegengestellt. Es herrschte das reine Chaos. Wir organisierten den Widerstand und kämpften um unser Leben." Tatsächlich konnten sie die Terroristen zumindest aufhalten, bis IDF-Einheiten anrückten.

Verwüstungen in einem Haus in Be'eri. Das Schild auf dem Sofa wurde bei Protesten der Kibbuz-Bewohner in Tel Aviv gegen die Justizreform getragen.

Verwüstungen in einem Haus in Be'eri. Das Schild auf dem Sofa wurde bei Protesten der Kibbuz-Bewohner in Tel Aviv gegen die Justizreform getragen.

(Foto: Tal Leder)

Agassi ist nicht der einzige Israeli, der die Angriffe der Hamas als Pogrom bezeichnet. Sowohl das Wort als die Vorstellung, dass Juden massenhaft ermordet, dass jüdische Kinder vor den Augen ihrer Eltern abgeschlachtet würden, gehörten eigentlich der Vergangenheit an. Mit "Pogrom" assoziieren Israelis eher organisierte Übergriffe und Morde in Osteuropa seit dem 19. Jahrhundert und Deutschland in der Nazi-Zeit.

"Es waren mehrere Pogrome", sagt Generalmajor Itai Veruv von einer Spezialeinheit der IDF, als er den Kibbuz Be'eri besucht, der ebenfalls nur wenige Kilometer vom Gazastreifen entfernt liegt. "Die Islamisten haben Kinder in Häuser hineingepfercht und lebendig verbrannt. Auf den Straßen fesselten sie junge Männer und Frauen und schossen ihnen in den Kopf. Manche Familien wurden ausgelöscht und ihre Babys an der Eingangstür erhängt. Andere wurden geköpft."

Erinnerung an 1973 -auch für Netanjahu

Veruv ist Reserveoffizier und hat bereits viele Kriege und Schlachtfelder gesehen, ein solches Massaker aber noch nicht erlebt. Seine Einheit war an den Kämpfen beteiligt, mit denen die israelische Armee die Kontrolle über die angegriffenen Ortschaften und Städte wiedererlangte. Die Hamas-Kämpfer hatten sich in kleinen Gruppen in Ruinen verschanzt und attackierten die israelischen Soldaten, als diese die Siedlungen durchkämmten. "Immer wenn wir einen Bereich sicherten, kamen plötzlich Terroristen heraus", erzählt Veruv. "Die ist ein Einschnitt in der Geschichte des Zionismus, denn Israel hat versprochen, seine Bürger zu beschützen. Unsere Antwort auf Gaza wird aber passend sein, denn wir werden die Hamas hart treffen und zerstören."

Viele Israelis glauben, dass die Hamas-Offensive sogar noch den Jom-Kippur-Krieg übertraf. Vor fast genau 50 Jahren, am jüdischen Versöhnungstag 1973, hatten zahlreiche arabische Nationen unter Führung von Ägypten und Syrien einen Überraschungsangriff auf Israel gestartet, der fast dessen Untergang bedeutete. Die Verzweiflung und Angst scheint jetzt - auch durch die Raketenangriffe aus dem Norden - noch größer zu sein. Für Israel war der Jom-Kippur-Krieg ein Wendepunkt. Regierungschefin Golda Meir wurde für das geheimdienstliche und militärische Versagen verantwortlich gemacht und musste ihren Hut nehmen. Das gleiche Schicksal droht jetzt Premier Benjamin Netanjahu, auch wenn dieser die Schuld bei den Demonstranten und IDF-Reservisten, die aus Protest gegen die Entmachtung der Justiz ihre Befehle verweigert hatten, suchen wird.

Keine Zeit für Trauer

"Es war, als ob der Staat Israel aufhörte zu existieren", sagt Or Gat aus dem Kibbuz Be'eri, während er vor dem zerstörten Haus seiner Eltern steht. "Meine Schwester und Schwägerin werden als Geiseln gehalten, meine Mutter ist wahrscheinlich tot. Mein Vater war mit den Terroristen im Haus, konnte sich aber im Badezimmer verstecken und sah mit an, wie sie unsere Familie mitnahmen. Es gibt keine Zeit zum Trauern, die Wut ist enorm."

Or Gat vor dem Haus seiner Eltern.

Or Gat vor dem Haus seiner Eltern.

(Foto: Tal Leder)

Gat, der in Tel Aviv lebt, befand sich zum Zeitpunkt des Überfalls auf einer Party in der südisraelischen Stadt Aschdod. Seine Schwester schrieb ihm über WhatsApp von dem Massaker und versicherte ihm, dass die IDF schon noch eintreffen werde. Doch die Armee kam zu spät. Die Hamas-Terroristen luden ihre Geiseln in ein Auto und fuhren davon. Augenzeugen sahen später, wie sich seine Angehörigen aus dem rasenden Fahrzeug stürzten und davonliefen. Während Gats Bruder und Nichte sich retten konnten, fehlt von den anderen jede Spur.

"Dies war einmal unser Paradies", sagt Gat, dessen Familie seit drei Generationen in Be'eri lebt. "Doch unser Spirit hier ist jetzt noch stärker. Den werden sie niemals brechen."

"Wir werden diese Katastrophe erfolgreich überstehen"

Sharon Agassi, der 61-Jährige aus Zikim, sagt, der 7. Oktober sei "der schlimmste Tag für das jüdische Volk seit dem Holocaust" gewesen. "Nicht nur auf dem Musikfestival richteten die Islamisten ein Massaker unter den Besuchern an, auch in den angrenzenden Ortschaften erschossen sie Menschen und Tiere. Sie vergewaltigten Frauen und ließen sie lebendig in ihren Häusern verbrennen. Wir warteten stundenlang auf Hilfe, um gerettet zu werden."

Agassi weiß, dass natürlich nicht alle Palästinenser hinter der Hamas stehen, dass die Terrororganisation auch für den Gazastreifen ein Fluch ist. "Zahlreiche Opfer von den angegriffenen Ortschaften haben sich für ein friedliches Zusammenleben mit den Palästinensern engagiert", sagt er. "Viele unterstützten die Menschen in Gaza. Unter den 199 Geiseln der Hamas ist auch Vivian Silver, eine bekannte Friedensaktivistin und Frauenrechtlerin."

Während der Landwirt sich in Tel Aviv von dem Trauma erholt, hilft ihm sein Neffe, das Grauen in den sozialen Medien zu erzählen. Denn die Welt solle Kenntnis nehmen, wozu die islamistischen Terroristen fähig sind. "Im Nahen Osten überleben nur die Starken", sagt Agassi. "Das jüdische Volk wird aber diese Katastrophe erfolgreich überstehen. Mit vielen Opfern, aber siegreich."

Quelle: ntv.de

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