Politik

Rassistisches Attentat in Hanau Die Nacht, als Ajlas Bruder starb

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Am 19. Februar jährt sich das rechsextreme Attentat von Hanau zum ersten Mal. Die Angehörigen der Opfer fühlen sich von den Behörden bei der Aufklärung im Stich gelassen.

(Foto: picture alliance/dpa)

Ein Jahr ist es her, dass Hamza Kurtovic bei dem rassistisch motivierten Terroranschlag von Hanau getötet wurde. Seine Schwester Ajla Kurtovic lässt der Verlust nicht los - auch weil der Staat ihre Fragen unbeantwortet lässt.

Als Ajla Kurtović am frühen Morgen des 20. Februars 2020 vom Klingeln des Telefons wach wird, ist ihr Bruder bereits tot. Sie weiß zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass der rechtsextreme Tobias R. in der Nacht zuvor neun Menschen erschossen hat. Und dass ihr Bruder, Hamza Kurtović einer davon war. Die Steuerfachwirtin war am Abend früh ins Bett gegangen; für sie war es ein ganz normaler Mittwoch. Ajla weiß "aber sofort, dass irgendetwas nicht stimmen kann", als sie den frühen Anruf ihres Vaters auf dem Display ihres Handys sieht.

Ein Jahr ist dieser Morgen, der alles verändert hat, nun her. Die 25-Jährige hält immer wieder kurz inne, während sie erzählt, wie ihre Familie das rechtsextremistische Attentat von Hanau erlebt hat.

Ihre Eltern, Liane und Armin Kurtović, verbringen die Nacht, als Ajla noch schläft, auf der Polizeiwache. Sie bemühen sich um Informationen über den Zustand ihres 22-jährigen Sohnes. Als ein Beamter ihnen mitteilt, dass Hamza zwar angeschossen worden sei, es ihm aber gut gehen würde, atmen sie kurz auf. "Das war um 24.00 Uhr", merkt Ajla an. Ihr Bruder sei jedoch schon um kurz nach Mitternacht gestorben. "Trotzdem wurde meinen Eltern Hoffnung gemacht."Es eine von vielen Situationen, in denen sich die junge Frau mit den schulterlangen Haaren rückblickend eine bessere Kommunikation der hessischen Behörden wünscht.

Vor dem ersten Jahrestag erzählt die Hanauerin auf einer Veranstaltung des Mediendienstes Integration, was sie sicher weiß. Ihr Bruder habe den Abend mit ein paar Freunden verbringen wollen. Was aber genau in der Tatnacht passiert ist und warum ihr Bruder sterben musste, weiß die Familie allerdings bis heute nicht. Auch nicht, ob sein Tod hätte verhindert werden können.

Notruf war kaum erreichbar

Nach dem Telefonat mit ihrem Vater eilt Ajla zu ihren Eltern auf die Wache. Als sie dort gegen 6.00 Uhr ankommt, herrscht Aufregung. Dann verliest jemand eine Liste - mit den Namen derer, "die es nicht geschafft haben". Auf der Liste stehen: Ferhat Unvar, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Păun, Said Nesar Hashemi, Fatih Saraçoğlu und Hamza Kurtović. "Mein Bruder war einer davon", sagt Ajla. "In diesem Moment ist für uns die Welt stehen geblieben."

Der 43-jährige Täter begann sein Attentat um kurz vor 22.00 Uhr am Hanauer Heumarkt. Nachdem er drei Menschen in verschiedenen Bars erschossen hatte, fuhr er mit seinem Auto zum zweiten Tatort am Kurt-Schuhmacher-Platz. Dort tötete er sechs weitere Menschen. Anschließend brachte er sich und seine Mutter zuhause um. "Wie konnte das überhaupt sein, dass der Täter vom ersten zum zweiten Tatort und anschließend nach Hause fährt?", fragt Ajla. Sie hat viele Fragen, vor allem an die hessische Polizei.

"Aber die entscheidendste ist eigentlich, was in der Tatnacht passiert ist." Zeugen berichteten, dass die 110 zur Tatzeit kaum erreichbar war. Hätte Tobias R. zumindest am zweiten Tatort gestoppt werden können, wenn der Notruf besser funktioniert hätte? Ajla fordert eine vollständige und lückenlose Aufklärung durch die Ermittlungsbehörden. Doch mit denen habe bis heute kein Gespräch stattgefunden; die örtliche Polizei schweige. "Das macht mich fassungslos", sagt die selbstbewusst auftretende Frau mit fester Stimme.

"Wussten eine Woche nicht, wo mein Bruder war"

Was die Angehörigen der Opfer über das Geschehen in der Tatnacht wissen, wissen sie Ajla Kurtovic zufolge vor allem aus den Medien. Es habe zwar eine Kontaktbeamtin für die Familie gegeben; über den Verbleib des verstorbenen Hamza habe die aber nichts sagen können. "Wir wussten eine Woche nicht, wo mein Bruder war", berichtet Ajla. Schließlich sei ihnen mitgeteilt worden, dass der Bestatter ihn abholen kann. "Ich empfand das als unmenschliche Art und Weise". Sie verstehe, dass die Polizei in der Tatnacht überfordert war, wie es Überlebende und Zeugen berichten. Es gehe aber darum, "irgendwie Transparenz zu schaffen", mahnt die junge Frau.

An Transparenz fehle es ihr auch bei der Vorgeschichte von Tobias R. Die Angehörigen wünschten sich, dass geklärt wird, welche Ereignisse der Tat vorausgegangenen sind. "Es gab ja Warnsignale", erklärt Ajla Kurtović. Bereits im November 2019 hatte der Täter von wirren Verschwörungserzählungen triefende Anzeigen gestellt, unter anderem bei der Staatsanwaltschaft Hanau.

Hinterbliebene sprechen über Schmerz nach Terror

Seit 2013 hatte der frühere Bankangestellte eine Waffen-Erlaubnis, obwohl er zuvor bereits psychologisch und strafrechtlich auffällig war. Da sieht die Schwester des Opfers auch die Politik in der Verantwortung: "Reicht die Zuverlässigkeitsprüfung, die im Moment stattfindet?" Man müsse doch aus den Fehlern lernen, die passiert sind.

Zwei Wochen vor der Tat veröffentlichte Tobias R. schließlich sein "Manifest" mit rassistischen Inhalten auf seiner Website. Dann weist die Ajla noch auf ein weiteres Kapitel aus der Vergangenheit des Täters hin: "Was hat es mit der Slowakei-Reise auf sich?" So hat Tobias R. angeblich an zwei Gefechtstrainings mit Ex-Soldaten in der Slowakei teilgenommen haben. "Kann es wirklich sein, dass die BRD davon nichts mitbekommen hat?", fragt sie.

Sie wisse, dass sie vom Täter keine Antworten mehr bekommt. Umso wichtiger sei es, dass die Ermittlungsbehörden "endlich anfangen, die Tat aufzuklären." Abschließen könne sie mit dem Geschehenen nicht, dafür sei der Verlust viel zu groß. "Aber ich glaube, es würde viel bewegen und uns helfen", wenn sie mehr erfahren würden.

Ajla Kurtović kämpft zusammen mit den Angehörigen der anderen Opfer weiter dafür, dass ihre Fragen beantwortet werden. Unterstützt werden sie dabei von der Stadt und dem Oberbürgermeister Hanaus. Ansonsten falle ihr keine Behörde ein, mit denen sie bei der Aufklärung gut zusammenarbeiten würden, sagt Ajla. "Ich vertraue noch auf den Rechtsstaat", betont sie. "Aber ich muss auch sagen, dass das Vertrauen immer und immer wieder auf eine harte Probe gestellt wird."

Quelle: ntv.de

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