Kinderklinik in Südukraine Ein Bild, das den ganzen Horror zeigt
23.03.2022, 20:30 Uhr
Seit 2014 werden Kriegsverletzungen in dem Krankenhaus behandelt.
(Foto: IMAGO/NurPhoto)
Eigentlich ist das Kinderkrankenhaus in Saporischschja erfahren bei Kriegsverletzungen. Seit Beginn des Krieges im ukrainischen Donbass 2014 werden dort Verwundete behandelt. Doch mit der russischen Invasion ändert sich alles, seitdem arbeitet das Personal rund um die Uhr.
Es ist eine beklemmende Aufnahme. Sie zeigt ein Zimmer im Kinderkrankenhaus in Saporischschja im Süden der Ukraine. Von draußen dringt kaum Licht herein, gestapelte Sandsäcke und Kartons blockieren die Fenster. In einem Krankenhausbett liegt ein Mädchen. Ihr Name ist Milena, sie ist erst 13 Jahre alt. Eine Kugel zerfetzte ihren Mund und ihre Zunge, auch mehrere Wirbel sind verletzt.
Verbreitet wurde das Foto von Pavlo Kovtoniuk. Auf Twitter schreibt er, dass er derzeit viele Interviews gebe. Häufig werde er gefragt, wie es um das ukrainische Gesundheitssystem bestellt sei. Kovtoniuk erklärt, dass das russische Militär konstant ukrainische Krankenhäuser attackiere. So habe es bisher 61 solcher Angriffe gegeben. Das Krankenhaus, in dem das Mädchen liegt, sei davon bisher nicht betroffen.
Kovtoniuk ist aber nicht Urheber des Bildes. Es stammt aus einer Reportage der französischen Zeitung "Libération". Der Journalist Pierre Alonso und der Fotograf William Keo sind gemeinsam in die Ostukraine gereist und haben das Kinderkrankenhaus besucht, das inzwischen Kriegsverletzte aus der gesamten Ostukraine aufnimmt. Die Klinik liegt etwa dreieinhalb Autostunden von Mariupol entfernt. Die Hafenstadt ist seit Wochen von russischen Truppen und pro-russischen Separatisten eingekesselt. Seitdem gibt es weder Strom noch Wasser. Jüngst warnte erst die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen vor einer "unvorstellbaren Tragödie" in der Stadt.
Sie sind auf das Schlimmste gefasst
Auch Milena stammt aus Mariupol. Ihre Familie versuchte wie so viele andere, dem ständigen Bombardement in Mariupol zu entfliehen, "Kinder" stand auf einem Schild auf ihrem Auto. Dennoch wurde ihr Fahrzeug von russischen Soldaten beschossen. Außer Milena wurde glücklicherweise niemand von ihrer Familie verletzt. Dieselben Soldaten, die auf Milena schossen, hätten sie danach in ein Krankenhaus gebracht, erzählt die Mutter, die ihren Namen nicht nennen möchte.
Die Ärzte sagen, dass Milena wieder vollständig gesund werden wird. Im Bett neben ihr aber ringt der kleine Wladislaw mit dem Tod. Dem Fünfjährigen wurde in den Bauch geschossen, als seine Familie aus ihrem Dorf Polohy zwischen Mariupol und Saporischschja vor den vorrückenden Truppen fliehen wollte. Weder Mutter noch Vater können sich um Wladislaw kümmern, sie liegen schwer verletzt in anderen Kliniken. Ein Beatmungsgerät hält den Jungen am Leben; die Ärzte fürchten, dass er die Nacht nicht überstehen wird. "Wir haben Kinder mit Kopfverletzungen, Amputationen, durchlöchertem Unterleib und Knochenbrüchen", sagt Chefarzt Juriji Borsenko. "Ich glaube, niemand möchte sehen, was wir hier sehen."
Die Klinik nimmt Kinder aus den heftig umkämpften Gebieten im Osten und Süden der Ukraine auf. Die Stadt Saporischschja 250 Kilometer nordwestlich von Mariupol ist noch relativ sicher, auch wenn in der Umgebung gekämpft wird und manchmal von fern Explosionen zu hören sind. Doch das Krankenhaus macht sich auf das Schlimmste gefasst: Gelbe Klebebänder an den Fensterscheiben sollen verhindern, dass sie bei einer Druckwelle zerspringen, in den Ecken stapeln sich Sandsäcke und im Keller wurde ein Schutzraum mit Metallbetten eingerichtet.
Schmerzensschreie junger Patienten
Die schwersten Fälle von der Neugeborenen-Intensivstation wurden bereits ins Untergeschoss verlegt, denn mit den benötigten Apparaten können die Babys bei Alarm nicht so schnell in Sicherheit gebracht werden. Der knapp zwei Wochen alte Mischa liegt dort. Gesicht und Fäuste sind verkrampft, als würde er gleich weinen. Er wurde in Tokmak südlich von Saporischschja geboren, während die Stadt beschossen wurde. Die Geburt war kompliziert und Mischa konnte nicht richtig mit Sauerstoff versorgt werden. Er hat Hirnschäden und Probleme beim Atmen und wird vermutlich sein ganzes Leben mit einer Behinderung zu kämpfen haben.
Die Ärzte des Krankenhauses haben Erfahrung mit Kriegsverletzungen: Sie kümmern sich seit 2014 um Kinder, die bei den Kämpfen im Donbass im Osten der Ukraine verletzt wurden. Seit dem russischen Großangriff auf die Ukraine am 24. Februar sei ihre Zahl drastisch gestiegen, und das Personal arbeite rund um die Uhr, sagt Iwan Anikin, der Leiter der Neugeborenenstation. Aus Sicherheitsgründen nimmt er seine 14-jährige Tochter nun immer mit in die Klinik. Auf den Krankenhausfluren sind oft die Schmerzensschreie der jungen Patienten zu hören.
Die meisten der eingelieferten Mädchen und Jungen werden für immer mit Behinderungen leben, berichten die Ärzte. So wie die 15 Jahre alte Mascha aus einem nahegelegenen Dorf. Sie war am 13. März, einem schönen sonnigen Tag, mit ihrer Mutter und ihrer Schwester auf dem Weg nach Hause, als eine Rakete direkt neben ihnen einschlug. Die Mutter warf sich über die Töchter, alle drei überlebten. Doch Mascha verlor ihr rechtes Bein und ihr rechter Arm ist schwer verletzt. "Nach vier Operationen geht es Mascha viel besser", sagt ihre Großmutter Walentyna Fetschtschenko. "Sie gerät aber in Panik, sobald sie ein lautes Geräusch hört."
Quelle: ntv.de, ses/AFP