Reisners Blick auf die Front "Ein einzelner Treffer kann für Russland verheerende Wirkung auslösen"
22.01.2024, 19:45 Uhr Artikel anhören
Kreml-Sprecher Peskow empörte sich am Montag, dass die Ukraine "zivile Infrastruktur" angreife. Der Gasterminal war in der Nacht zu Sonntag in Brand geraten.
(Foto: picture alliance/dpa/TASS)
Eine ukrainische Drohne hat womöglich Hunderte Kilometer weit weg im Norden Russlands ein Gasterminal in Brand gesetzt. Welche neue Strategie dahintersteckt und welche Erfolgschancen sie hat, erklärt Oberst Markus Reisner ntv.de
ntv.de: Russland meldete am Sonntag einen brennenden Terminal für Flüssiggas im Ostseehafen Ust-Luga bei Sankt Petersburg. Der Brand sei durch externe Einwirkung entstanden, hieß es. Wenn es die Ukrainer waren, dann müsste eine Drohne mehr als 800 Kilometer über russisches oder belarussisches Territorium geflogen sein. Ohne erfasst zu werden. Ist das so spektakulär, wie es klingt?
Markus Reisner: Nach den jetzt vorliegenden Informationen wissen wir, dass bei den letzten ukrainischen Drohnenangriffen Distanzen von über 1200 Kilometern zurückgelegt wurden. Beim Angriff in Ust-Luga wurde ein Gasterminal zumindest beschädigt, wenn nicht gar zerstört. Das spiegelt tatsächlich die neue Strategie Kiews wider. Ende letzten Jahres haben ukrainische Offizielle ganz offen das Ziel für 2024 umrissen, nämlich von der Offensive des Sommers 2023 in die Defensive überzugehen, also das gewonnene Gelände zu halten. Gleichzeitig will man aber versuchen, den Krieg nach Russland hineinzutragen.

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres. Jeden Montag analysiert er für ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.
(Foto: ntv)
Ein schwieriges Unterfangen, da die westlichen Unterstützer ja sagen: Mit unseren weitreichenden Waffensystemen darf russisches Territorium nicht attackiert werden. Nun schafft die Ukraine das mit eigenen Drohnen?
Wir sehen seit Jahreswechsel, dass die Ukraine hier versucht, die ersten Ergebnisse zu erzielen und mit Drohnen Richtung Leningrad vorstößt, bis Belgorod oder bis nach Moskau. Da kann ein einzelner Treffer eine für Russland verheerende Wirkung auslösen, in diesem Fall umfangreiche Brände und Explosionen.
Was für ein Typ Drohne wird da eingesetzt und wie schafft sie es, ein so großes gegnerisches Gebiet unerkannt zu überfliegen?
Für eine derartige Reichweite braucht die Drohne einen leistungsstarken Antrieb und muss daher größer sein als etwa eine kleine First-Person-View-Drohne, die nur wenige Minuten in der Luft bleiben kann. Wir haben also ein System von mehreren Metern Spannweite mit Tank und zugeladenem Sprengstoff, das per GPS ins Ziel geflogen wird. Dadurch, dass die Drohne sehr tief fliegt - nur etwa 150 Meter über dem Boden - und verglichen mit einem Flugzeug oder Hubschrauber sehr klein ist, kann sie nur schwer vom Radar detektiert werden. Es gibt zwar Tiefflug-Radarsysteme, aber um ein riesiges Land wie Russland lückenlos zu überwachen, bräuchte man zu viele davon, das ist nicht möglich. Darum steht hinter solchen Drohnenangriffen eine weitere Absicht: Die Ukraine will Russland zwingen, Fliegerabwehr, die sie an der Front hat, abzuziehen und zum Schutz ihrer eigenen Städte und Infrastruktur einzusetzen.
Der messbare Erfolg des Angriffs ist ein brennender Gasterminal in einem riesigen Land. Wie viele Angriffe dieser Art müsste die Ukraine fliegen, um eine spürbare Wirkung auf russische Logistik zu entfalten? Jeden Tag einen?
Bei Attacken dieser Art reden wir tatsächlich schon von strategischen Luftangriffen, die darauf ausgelegt sind, auf den Verlauf des Krieges einzuwirken. Sie können den Russen damit empfindliche Schläge versetzen, aber noch fehlt eine Massierung der Angriffe. Wichtig ist zu verstehen: Neben den zwei schon genannten Absichten, will die Ukraine auch den Informationsraum beeinflussen, der bestimmt, was wir über den Konflikt denken.
Das gelingt ihr offensichtlich. Würde ich Ihnen sonst all diese Fragen stellen?
Exakt, das ist der Punkt. Hier kann die Ukraine tatsächlich zeigen, dass sie sehr wohl in der Lage ist, auch auf der strategischen Ebene zumindest in Teilen das Momentum zurückzugewinnen. Auch deshalb sind diese Angriffe so wichtig aus ukrainischer Sicht.
Gibt es Schätzungen, wie viele Drohnen dieser Art Kiew im Moment zur Verfügung stehen?
Noch gibt es diese speziellen Waffensysteme nicht in ausreichend großer Zahl, um die Russen über einen längeren Zeitraum zu übersättigen, was aber nötig wäre, um sie tatsächlich in die Knie zu zwingen. Ein Ziel der Ukraine für 2024 ist aber auch, neben der Defensiv-Strategie den eigenen militärischen Industriekomplex hochzufahren, auch mithilfe internationaler Rüstungsunternehmen. Unter anderem, um genau diese Systeme in größerer Zahl zu bauen, mit denen man dann tief bis nach Russland hineinwirken kann. Für die Rüstungsbranche hat das einen großen Vorteil: Der Krieg in der Ukraine ist ein riesiges Experimentierfeld, wo man viele Technologien ausprobieren kann, um dann zu sehen, welchen Effekt sie erzielen.
Aber in der Quantität kommt man an das Potenzial der Russen nicht heran?
Die produzieren laut Schätzungen pro Monat zwischen 100 und 150 Marschflugkörper und ballistische Raketen und dazu kommen 300 bis 350 dieser iranischen Drohnen, die Russland jetzt auch selber baut. Solche Zahlen erreicht die Ukraine bei Weitem nicht. Die Drohne, deren Wirkung wir gestern gesehen haben, ist - mit technischen Unterschieden - quasi ein Gegenstück zur Shahed-Drohne des Iran.
Neben dem brennenden Terminal hat in den vergangenen Tagen auf ntv.de auch ein Video für Aufmerksamkeit gesorgt, das zeigt, wie ein Bradley, also ein US-Schützenpanzer, einen russischen Kampfpanzer T-90 lahmlegt. Steht dieser Erfolg für ein größeres Phänomen?
Der Bradley beginnt, mit seiner Maschinenkanone auf diesen T-90 zu wirken. Wir sehen die Explosionswolken der einschlagenden Sprenggranaten. Der russische Panzer versucht auszuweichen, ist aber durch den Beschuss manövrierunfähig und läuft auf einen Baum auf. Als er zusätzlich von einer First-Person-View-Drohne angegriffen wird, flüchtet die Besatzung aus dem Fahrzeug und versucht, sich zu retten. Man sieht, sie hat den Beschuss anfänglich überlebt. Das Entscheidende ist daher, dass es dem Schützenpanzer der Ukrainer nicht gelingt, die Panzerung des T-90 zu durchschlagen.
Also doch kein so großer Effekt. Warum verbreitet die Ukraine dann dieses Video?
Der gezeigte kurze Ausschnitt soll im Informationsraum zeigen, dass die Ukraine den Russen technologisch sowie in Taktik und Gefechtstechnik überlegen sei. Die ukrainische Besatzung hat den T-90 mit einem eigentlich unterlegenen Waffensystem angegriffen, indem sie ihn so durch Beschuss eingedeckt hat, dass er nicht in der Lage war, selbst auf den Bradley zu schießen. Die Kanone des T-90 hätte auf jeden Fall einen Durchschlag beim Bradley verursacht. Aber die Besatzung der Ukrainer war schneller und hat die Russen so in die Defensive gezwungen, die in Panik geflohen sind. Der Kampfeswille der Ukrainer war größer als der der Russen.
Ist diese Situation "Panzer gegen Panzer" typisch für die Front derzeit? Erwarten würde man eher Verbände mit mehreren Fahrzeugen, die gemeinsam kämpfen.
Wir beobachten derzeit oft derartige Scharmützel, weil eine Bereitstellung größerer Kräfte kaum mehr möglich ist. Das Gefechtsfeld steht durch die vielen Drohnen unter Totalüberwachung. Größere Formationen werden sofort aufgeklärt und oft schon während der Bereitstellung durch Artillerie beschossen oder von Drohnen angegriffen und zerstört. Die Frage ist, welches Waffensystem, beziehungsweise welche Fähigkeit wird dieses Patt durchbrechen? Das könnte die Beherrschung des elektromagnetischen Feldes sein. Wer die Gegenseite daran hindert, Drohnen einzusetzen, kann sie auch wieder Manöver mit größeren Formationen durchführen.
Was schätzen Sie: War der T-90 für die russische Armee noch zu retten?
Ich vermute, in diesem konkreten Fall wird es den Russen nicht gelungen sein, den T-90 zu bergen, weil die Ukrainer ihrerseits versucht haben, den T-90 mit First-Person-View-Drohnen gänzlich zu zerstören. Der Plattform Oryx zufolge haben die Russen bislang rund 100 T-90 verloren, entscheidend ist aber die russische Produktionsrate für neues Gerät. In den letzten Monaten hieß es immer wieder, die russische Industrie werde bald nur noch sehr begrenzt liefern können. Bislang liefert sie aber stetig Nachschub. Es ist nicht abzusehen, dass Russland die Kraft ausgeht.
Woran liegt das?
Das liegt unter anderem daran, dass die russischen Produktionsstandorte nicht angegriffen werden und Moskau Unterstützung aus dem Ausland bekommt. Außerdem muss man sagen: Im Vergleich zu westlichen Waffensystemen bekommen die Russen mehr für weniger Geld. Das mag zwar qualitativ nicht auf westlichem Niveau sein, ist dafür aber in höherer Quantität verfügbar.
Woher rührt diese unterschiedliche Herangehensweise?
Der Westen setzt auf hochpräzise Waffensysteme und sehr gut ausgebildete Soldaten. Russland sagt: Die Masse macht's. Im Westen war es im Kalten Krieg das Ziel, den eigenen Soldaten so gut wie möglich zu schützen und qualitativ hochwertiges Gerät zu bauen. Der Leopard-Kampfpanzer in seiner modernsten Version ist ein Gerät, das vollgestopft ist mit Technik, Sensorik, ein Hochleistungswaffensystem. Die Russen - und zuvor Sowjets - sind dagegen davon ausgegangen, dass sie technologisch nicht auf demselben Niveau produzieren können. Ihr Ansatz war, Qualität durch Quantität zu begegnen. Die russische Militärkultur ist eine grundsätzlich andere als die westliche.
Trotz der Quantität heißt es von der Front seit Wochen, dass die Russen mit hohen Verlusten kämpfen und dabei nur wenig vorrücken, also nicht sehr erfolgreich sind. Zugleich geht die NATO davon aus, dass Russland in den nächsten Jahren auch NATO-Territorium angreifen könnte. Widerspricht sich das?
Dieser offensichtliche Widerspruch in sich lässt sich nur auflösen, indem man ehrlich sagt, dass man den Gegner bis jetzt unterschätzt hat. Darauf weise ich seit dem Frühjahr 2022 immer wieder hin. Wir müssen die Situation ernst nehmen, weil Russland hier tatsächlich einen massiven Aufwuchs versucht, aus der Waffenproduktion heraus und aus dem ständigen Zulauf von Soldaten, die man rekrutiert - ukrainische Offizielle nehmen an, circa 1000 bis 1100 Mann pro Tag. Das hat ein immenses Potenzial. Man geht davon aus, dass derzeit bis zu 500.000 russische Soldaten in der Ukraine sind. Zumindest 462.000 an der Front und 35.000 als Besatzungstruppen. Das Doppelte beziehungsweise Zweieinhalbfache von dem, mit dem Russland im Februar 2022 einmarschiert ist. Und diese Soldaten rücken trotz massiver Verluste vor, Meter für Meter.
Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer
Quelle: ntv.de