
Im Zweifel entscheidet in der Türkei einer, wer freikommt und wer nicht: Präsident Recep Tayyip Erdogan.
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Nach mehr als einem Jahr Haft ist Deniz Yücel frei. Endlich. Dass der deutsche Journalist die Türkei verlassen durfte, ist mehr als das glückliche Ende eines tragischen Einzelfalls. Zu viel Gutes hineininterpretieren sollte man in das Ereignis aber nicht.
Die Freilassung von Deniz Yücel ist eine gute, eine viel zu lange überfällige Nachricht. Auf dem Podium der Münchener Sicherheitskonferenz fällt der Name des deutschen Journalisten trotzdem nicht oft. Selbst dann nicht, wenn es ausdrücklich um die Türkei und ihre Beziehungen zum Rest der Welt geht.
Auch der geschäftsführende deutsche Außenminister, Sigmar Gabriel, spricht am Rande der Konferenz nur sehr zurückhaltend über ihn. Er nennt die Freilassung des Journalisten eine Demonstration, dass Diplomatie und unermüdliche Gesprächsversuche zum Erfolg führen können. Er wolle den Fall Yücel aber nicht in Zusammenhang mit den "viel größeren Schwierigkeiten" bringen, die es offensichtlich gebe. "Vor den Weltproblemen ist das ein Einzelproblem."
Die Zurückhaltung im Fall Yücel ist berechtigt: Die Türkei führt gerade einen Angriffskrieg im Norden Syriens. Sie schießt in der Region Afrin einen der wichtigsten Partner der Nato zusammen, ein Bündnis, dem sie eigentlich selbst angehört. Sie verwendet dafür ausgerechnet deutsche Leopard-II-Panzer, obwohl sie insgesamt über mehr als 3000 Panzer anderen Typs verfügt, die diplomatisch nicht so heftige Reaktionen ausgelöst hätten.
Die Führung rund um Präsident Recep Tayyip Erdogan umgeht auch internationale Sanktionen. Vor allem aber hebelt sie im eigenen Land Demokratie und Rechtsstaat aus, unterdrückt ganze Teile der Bevölkerung.
An alldem ändert die Freilassung von Deniz Yücel nichts. Dass er am Freitag das Gefängnis verlassen durfte, ist dennoch mehr als das glückliche Ende eines tragischen Einzelfalls. Sie ist ein positives Signal - das mit Vorsicht zu genießen ist.
Selten zu beobachtende Solidarisierung
Yücel ist in Deutschland und der Türkei zu einem Symbol geworden. In der Bundesrepublik vor allem zum Symbol für journalistisches Heldentum. Weil er nach der Wahrheit suchte und dabei die Konfrontation mit dem türkischen Staat in Kauf nahm, weil er für seine unabhängige Berichterstattung neun Monate in Isolationshaft darbte und selbst nach dieser Tortur noch Courage bewies und sich dagegen sperrte, durch einen schmutzigen Deal freigekauft zu werden. Yücel bekam zu Recht etliche Journalistenpreise, weil er ein Vorbild ist für viele seiner Zunft.
In der Türkei passierte Ähnliches, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Präsident Erdogan brandmarkte Yücel als "deutschen Agenten" und "Terroristen", er sprach Yücel ab, überhaupt Journalist zu sein.
Dass sich Ankara und Berlin in diesem derart aufgeladenen Fall dennoch einigen konnten, hat einen Wert weit über den Einzelfall hinaus. Die Freilassung des Menschenrechtlers Peter Steudtner und der Journalistin Mesale Tolu waren gewissermaßen schon die Vorboten dafür - spätestens jetzt scheint in den bilateralen Beziehungen zwischen Berlin und Ankara wieder etwas zu gehen. Und das ist schon etwas angesichts der Erfahrungen der vergangenen Jahre.
Lebenslange Isolationshaft
Zu viel hineininterpretiert werden darf in den Fall allerdings auch nicht. Es ist kein Geheimnis, dass Erdogan auf stabile wirtschaftliche Verhältnisse im Land angewiesen ist. 2019 stehen Kommunal-, Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der Türkei an. Erdogan braucht Deutschland.
Ausgerechnet die Freilassung Yücels wird deshalb auch zu einem Beleg für die Willkür im türkischen Staat. Gegen Yücel liegt jetzt nach mehr als einem Jahr eine abstruse Anklageschrift vor. Die Vorwürfe darin sind unhaltbar. Die türkische Justiz wird nun einen Prozess eröffnen, in dem die Staatsanwaltschaft 18 Jahre Haft fordert. Yücel durfte aber schon das Gefängnis und das Land verlassen, er ist in Berlin. Offensichtlicher lässt sich kaum demonstrieren, dass in der Türkei im Zweifelsfall nur einer darüber entscheidet, wer frei sein darf und wer nicht: Erdogan.
Journalisten und Oppositionelle müssen sich angesichts dieses Theaters auch in Zukunft fürchten. Ernsthaft fürchten. Am Tag, an dem Deniz Yücel freigelassen wurde, wurden sechs seiner türkischen Kollegen mit drakonischen Strafen belegt. Sie sollen den Rest ihres Lebens in Haft bleiben - davon 23 Stunden pro Tag in vollkommener Isolation.
Quelle: ntv.de