Interview mit Çiğdem Akyol "Erdogan hat zwei Möglichkeiten, um an der Macht zu bleiben"
26.03.2025, 10:57 Uhr Artikel anhören
Während im Land die Proteste anhalten, tut Erdoğan so, als sei die "Show" bald vorüber. Hier beim abendlichen Fastenbrechen mit Studierenden in Ankara. Die jungen Leute warnte er in einer Rede, wachsam gegen jene zu sein, "die Chaos stiften wollen".
(Foto: picture alliance / Anadolu)
Türkei-Expertin Çiğdem Akyol sieht eine Parallele zwischen dem türkischen Präsidenten Erdogan und dem inhaftierten CHP-Präsidentschaftskandidaten Imamoğlu: Beide seien charismatische Politiker, auch Erdogan sei Oberbürgermeister von Istanbul gewesen und auch Erdogan saß im Gefängnis, bevor er Präsident wurde. Im Interview mit ntv.de bezweifelt Akyol allerdings, dass die Geschichte sich wiederholt: "Was wir jetzt erleben, ist der Weg in einen umfassenden Autoritarismus - die systematische Zerschlagung von Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung ist fast vollendet."
ntv.de: Große Proteste wie aktuell in der Türkei suggerieren häufig, dass ein Land geschlossen gegen den Machthaber steht. Das ist meist falsch - auch in diesem Fall?
Çiğdem Akyol: Recep Tayyip Erdogan hat immer noch eine sehr breite Basis. Allerdings bröckelt die. Selbst Anhänger zweifeln immer mehr an seiner Politik. Auch sie sehen, dass der Wille des Volkes übergangen wird, dass ein demokratisch gewählter, sehr beliebter Spitzenpolitiker einfach inhaftiert wird, und dass es keine funktionierenden Lösungen für die seit Jahren anhaltende Wirtschaftskrise mit einer Inflation im zweistelligen Bereich gibt. Viele Menschen sind sehr wütend, dass ihre Stimmen quasi nichts gelten - und ihr Votum an der Wahlurne wegen des politischen Manövers eines Mannes missachtet wird. Vor allem junge Menschen und die gebeutelte Mittelschicht, die nichts zu verlieren haben, sind jetzt auf den Demonstrationen. Ein Ausschluss von Ekrem Imamoğlu aus dem Präsidentschaftsrennen würde die Türkei in eine Reihe mit Ländern wie Russland oder Weißrussland bringen, in denen Wahlen stattfinden, aber keinen Unterschied machen - und das wollen viele Türken nicht.

Çiğdem Akyol ist Journalistin und Autorin. Sie arbeitete unter anderem als Türkeikorrespondentin. Zuletzt erschienen von ihr das Buch "Die gespaltene Republik. Die Türkei von Atatürk bis Erdoğan" sowie im vergangenen Jahr der Roman "Geliebte Mutter - Canım Annem".
(Foto: privat)
Die türkischen Behörden gehen schon länger juristisch gegen Imamoğlu vor. In der vergangenen Woche hat die Istanbuler Universität ihm sein Diplom aberkannt, bald dürfte er rechtskräftig vorbestraft sein - beides ist ein Hinderungsgrund für eine Präsidentschaftskandidatur, wenn Imamoğlu am Ende nicht ohnehin dauerhaft im Gefängnis bleiben muss. Man könnte meinen, Erdogan will gleich mehrfach sicher sein, bei den nächsten Wahlen nicht gegen ihn antreten zu müssen. Kann es sein, dass er Angst vor Imamoğlu hat?
Es ist eindeutig, dass Erdogan Angst hat, denn es gibt momentan nur eine politische Figur, die ihm gefährlich werden kann - Ekrem Imamoğlu. Der hat bereits drei Kommunalwahlen klar gewinnen können. Umfragen zeigen, dass Erdogan gegen ihn verlieren würde, wenn jetzt ein neuer Präsident gewählt würde. In der Türkei gilt Imamoğlu in vielen Kreisen geradezu als Lichtgestalt. Er ist wirklich sehr populär, auch bei der konservativen Klientel, weil er aus der Schwarzmeer-Region kommt. Der Sozialdemokrat ist ein Charismat, er inszeniert sich als "Mann aus dem Volk". Um ein aktuelles Beispiel zu nennen: Momentan ist Ramadan. Imamoğlu fastet, zelebriert das Fastenbrechen in sozialen Netzwerken, seine Mutter, die sich jetzt auch in den Medien immer wieder zu ihrem Sohn äußert, trägt ein Kopftuch. Gleichzeitig spricht er eine linke Klientel und kurdische Wähler an. Das sind Stimmen, vor allem die der Kurden und Konservativen, die Erdogan braucht, um bei vorgezogenen Neuwahlen zu gewinnen. Laut Verfassung darf er eigentlich nach zwei Amtszeiten nicht mehr antreten.
Wie will Erdogan sich dann trotzdem eine weitere Amtszeit sichern?
Es gibt zwei Möglichkeiten: vorgezogene Neuwahlen oder eine Verfassungsänderung. Für beides braucht Erdogan entsprechende Mehrheiten. Deshalb braucht er Verbündete über seine Partei und die Regierungskoalition hinaus. Das ist auch der Grund, warum die Regierung den Kurden seit Wochen Zugeständnisse macht, warum es wieder Friedensgespräche mit Abdullah Öcalan geben soll, dem inhaftierten früheren PKK-Chef. Erdogan hat in der Vergangenheit immer wieder gezeigt, dass er Gruppen instrumentalisiert: Wenn er sie braucht, wie aktuell die Kurden, dann macht er ihnen Zugeständnisse. Wenn sie ihm gefährlich werden, dann landen sie im Gefängnis. Man sieht das dieser Tage recht eindrucksvoll auf dem offiziellen Facebook-Account des Präsidenten. Seit der Inhaftierung Imamoğlus ist dort mit Blick auf die Demonstranten ständig von "Straßenterror" die Rede. Gleichzeitig wird den Kurdinnen und Kurden zum kurdischen Neujahrsfest Newroz gratuliert - dabei wurden in den vergangenen Jahren Dutzende prokurdische Politiker festgenommen, abgesetzt, inhaftiert. Überhaupt wurden in den vergangenen Wochen in den kurdischen Gebieten Dutzende Intellektuelle, Künstler, Journalisten und Oppositionelle festgenommen. Diese Nachrichten gehen hier einfach nur unter, weil wir uns schon so sehr daran gewöhnt haben.
Funktioniert diese Doppelstrategie? Er kann doch nicht Imamoğlu vorwerfen, mit Kurden zusammenzuarbeiten, und gleichzeitig darauf hoffen, dass die prokurdische Partei ihn unterstützt.
Es klingt tatsächlich bizarr, aber es wäre nicht das erste Mal, dass ein solches Vorgehen funktioniert. Ich denke, es wird auch diesmal funktionieren. Die kurdische Opposition steht unter Druck. Die Türkei gilt als Parteienfriedhof - gerade die kurdischen Parteien haben immer wieder die Erfahrung machen müssen, dass sie verboten wurden. In der Geschichte der Türkischen Republik gab es schon Dutzende kurdische oder prokurdische Parteien, die aufgelöst werden mussten. Und: Die Kurdinnen und Kurden fühlen sich auch von den Kemalisten verraten, von der sozialdemokratischen CHP. Diesen Tenor hört man in den sozialen Medien auch jetzt: Vergesst nicht, dass die Sozialdemokraten uns in den letzten hundert Jahren immer wieder auch unterdrückt haben! Jetzt können wir sie ruhig mal verraten.
Wie schafft Imamoğlu es, linke oder liberale Türken anzusprechen?
Vor allem über die Themen. Imamoğlu macht beispielsweise Kinderrechte zu seiner Agenda, auch Umweltthemen und Wohnungspolitik, also klassisch linke Themen. Dazu kommt, dass er Charisma hat - vor allem im Unterschied zum früheren CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu, der einst zum Beamten des Jahres gewählt wurde. Kılıçdaroğlu war gewissermaßen der Olaf Scholz der Türkei. Da ist Imamoğlu eine andere Liga. Der kann in der Menge baden, er kann sich als dynamisch und jung inszenieren, auch mit seiner Frau, die kein Kopftuch trägt. Mit seinem Charisma erinnert er an einen anderen früheren Oberbürgermeister von Istanbul, der ebenfalls im Gefängnis gelandet ist: an Erdogan.
Erdogan saß Ende der 1990er Jahre für ein paar Monate in Haft. 2003 wurde er Ministerpräsident, 2014 Staatspräsident. Ist das ein plausibles Szenario für Imamoğlu - aus dem Gefängnis in den Präsidentenpalast?
Jede Antwort wäre spekulativ, aber das politische Handwerk beherrscht er jedenfalls. Aber wenn er nicht zur Wahl antreten kann - sei es wegen des fehlenden Diploms oder aus einem anderen Grund -, dann kann er auch nicht gewählt werden. Die Türkei ist heute eine andere als vor 25 Jahren. Sie ist jetzt ein Präsidialsystem, das komplett auf Erdogan zugeschnitten ist. Die meisten Medien und das Justizsystem sind überwiegend regierungstreu. Es wird noch viel Wasser den Bosporus runterfließen. Aber im Moment würde ich davon ausgehen, dass Erdogan mit seinem Plan durchkommt.
Eine lupenreine Demokratie war die Türkei schon bislang nicht. Ist die Festnahme von Imamoğlu ein qualitativ neuer Schritt in die Autokratie?
Eine Demokratie nach westlichen Maßstäben war die Türkei nie. Aber das, was wir jetzt erleben, ist selbst für türkische Verhältnisse mit einem Staatsstreich vergleichbar. Die Türkei hat in ihrer Geschichte schon vier Putsche erlebt, auch drei Putschversuche, die niedergeschlagen wurden. So etwas hat es aber noch nicht gegeben: dass ein potenzieller Präsidentschaftskandidat wenige Tage vor seiner Nominierung festgenommen wurde. Das hat eine neue Qualität. Überraschend kommt es allerdings nicht. Was wir jetzt erleben, ist der Weg in einen umfassenden Autoritarismus - die systematische Zerschlagung von Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung ist fast vollendet.
Die Europäische Union hat trotzdem betont zurückhaltend reagiert, offenbar weil sie Angst hat, Erdogan zu verprellen. Aber es gibt auch das Argument, dass scharfe Kritik nur eine Gegenreaktion hervorrufen würde.
Das ist nur eine Ausrede und wenig erstaunlich. Die Reaktion der Europäischen Union und auch aus den USA war nicht anders zu erwarten. Die EU hat keinerlei Druckmittel, jedenfalls keine, die sie einsetzen will. Sie braucht Erdogan in der Flüchtlingspolitik, zudem hat er sich bei den Verhandlungen mit Russland und der Ukraine in eine gute Position gebracht. Mit den neuen Machthabern in Syrien ist er sehr eng, und die Türkei ist ein wichtiger Eckpfeiler der Nato und damit auch der eigenen Sicherheitsarchitektur. Aus all diesen Gründen ist die Kritik sehr leise. Für die türkische Zivilgesellschaft heißt das, dass sie allein dasteht. Wer in der Türkei im Gefängnis landet, sollte nicht auf internationale Unterstützung hoffen.
Eine Frage noch zu den Deutsch-Türken: Vor zwei Jahren erhielt Erdogan unter ihnen ein deutlich besseres Ergebnis als in der Türkei. Könnte es sein, dass diese Stimmung jetzt kippt?
Das Wahlergebnis muss man mit Vorsicht genießen. Unter den rund 2,9 Millionen Menschen mit türkischem Migrationshintergrund waren bei der letzten Wahl 2023 nur 1,5 Millionen wahlberechtigt. Laut Medienangaben hat sich nur knapp die Hälfte an der Stichwahl beteiligt. Davon stimmten 67 Prozent für den alten und seitdem wieder amtierenden Präsidenten. Deshalb kann man nicht sagen, dass "die Deutsch-Türken" überwiegend für Erdogan sind. Aber er hat einen starken Rückhalt bei diesen Wählern, weil deren Familien oftmals aus konservativen Kreisen kommen, weil der Nationalstolz eine große Rolle spielt und weil sie sich nicht von ausländischen Medien und Politikern vorschreiben lassen wollen, was gut ist für die Türkei.
Mit Çiğdem Akyol sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de