Risse in konservativen Familien? "Es gibt Frauen, die nicht laut sagen, dass sie Harris wählen"
05.11.2024, 09:41 Uhr Artikel anhören
Kamala Harris will als erste Frau die US-Präsidentschaftswahl gewinnen. Kann sie auf konservative "Leihstimmen" hoffen?
(Foto: REUTERS)
Kamala Harris oder Donald Trump? Wer macht das Rennen bei der US-Präsidentschaftswahl? RTL-Aktuell-Anchorman Christopher Wittich hat bis vor Kurzem als Korrespondent für ntv in den Vereinigten Staaten gearbeitet. Im exklusiven Interview für den Podcast "Wieder was gelernt" blickt er auf einen "bemerkenswerten und faszinierenden Wahlkampf" zurück und zeigt auf, was bei der Wahl für Kamala Harris und was für Donald Trump spricht.
ntv.de: Wie blickst du auf diese Wahl und den Wahlkampf? Ist es Faszination? Ist es Spannung?
Christopher Wittich: Es ist absolute Faszination. Vor allem, wenn man sich anschaut, was dieser Wahlkampf für Pirouetten gedreht hat. Donald Trump wurde angeschossen. Joe Biden hat seine Kandidatur zurückgezogen, Kamala Harris in den Umfragen aufgeholt. Jetzt liegt Trump in den Umfragen in den Swing States wieder knapp vorn. Allein die letzten Tage mit dem Thema Müll. Es war ein wirklich bemerkenswerter Wahlkampf.
Kein Vergleich zu Bundestagswahlkämpfen.
Absolut. Entertainment spielt in den USA eine riesige Rolle. Das weiß auch jeder, der sich Donald Trump in Gänze auf der Bühne angeguckt hat. Die Playlist ist immer identisch, sein Auftreten auch. Bei den Demokraten ist es nicht anders. Allein die Parteitage ... völlig anders als in Deutschland und Europa, wo per Karten oder Handzeichen über Anträge abgestimmt wird und damit alles verkauft wird, aber keine Emotionalität.
Vor dem Biden-Rückzug war alles auf eine zweite Präsidentschaft von Donald Trump ausgerichtet. Erst recht nach dem Attentatsversuch. Aber nur ein Wochenende später hat Joe Biden seine Kandidatur zurückgezogen und den Weg für Kamala Harris freigemacht. Ihr Wahlkampf war gezwungenermaßen kurz. War er trotzdem gut?
Sie ist ein bisschen in die Fußstapfen von Joe Biden getreten und wollte sich als Anti-Trump darstellen. Sie kann also nicht in gleicher Weise polarisieren und nicht mit denselben Vokabeln um sich werfen. Das wäre aber auch nicht ihre politische Art, so habe ich sie im Weißen Haus als Vizepräsidentin nie erlebt. Mein Kritikpunkt an ihrer Kampagne ist: Es ist ihr nicht gelungen, zu sagen, was ihre Erzählung für die Zukunft ist. Was würde sie anders machen als Joe Biden? Da blieb sie dünn. Sie hat anfangs Euphorie erzeugt, weil sie jünger war, noch dazu eine Frau. Sogar mit Migrationsgeschichte durch ihre Eltern. Dadurch haben die Demokraten wieder einen Zugang zu vielen Wählergruppen gewonnen, der weg war. Aber im Verlauf des Wahlkampfs hat man auch gemerkt: Diese Euphorie ist nicht von Dauer. Die Leute haben eine zweite Stufe erwartet, die nie kam.
Auf der anderen Seite hat Donald Trump wenig überraschend stark polarisiert. Präsidiales Auftreten erwartet man von ihm nicht. Ist das ein Vorteil im Wahlkampf?
Dieser Wahlkampf hat gezeigt, was Donald Trump schon 2016 gesagt hat: Er kann machen, was er will, die Leute wählen in sowieso. Dahinter kann man jetzt zwei dicke Ausrufezeichen setzen. Trump kann alles sagen. Die Leute haben gar keinen Anspruch, dass das in irgendeiner Form der Wahrheit entspricht. Er geht auf die Bühne und unterhält die Leute. Im Vorwahlkampf habe ich das im Gespräch mit Trump-Anhängern selbst gemerkt: Sie haben gesagt, dass sie vor allem kommen, weil Trump besseres Entertainment liefert als jede Sportart.

Christopher Wittich war vor seiner Tätigkeit als Anchorman bei RTL Aktuell zuletzt zwei Jahre US-Korrespondent für RTL und ntv.
Gerade in der Schlussphase hat Trump auf unkonventionelle Aktionen gesetzt. Es gab den Auftritt im Müllwagen oder bei McDonald's. Wie bewertest du diese Art des Wahlkampfs?
Trump weiß, wie man viral geht. Alle TV-Sender haben die Bilder gezeigt, alle Zeitungen haben sie gedruckt. McDonald's steht in den USA für Leute, die nicht so viel Geld haben. Mit seinem Auftritt symbolisiert Trump: Ich kümmere mich um euch. Auch der Müllwagen macht deutlich, dass Trump eine gute Kampagne gefahren ist. Das muss man anerkennen, ohne die Inhalte zu bewerten. Seine Leute haben schnell auf Ereignisse reagiert und haben Themen kreativ für sich vereinnahmt.
Gleichzeitig gab es einige Aussagen von Trump, die zum Kopfschütteln waren. Zum Beispiel Gewalt- oder Waffen-Rhetorik in Richtung von Liz Cheney zuletzt. Ist diese Unberechenbarkeit und Unbeherrschtheit ein Problem?
Ja. Auch republikanische Anhänger haben, als Harris ins Rennen eingestiegen ist, gesagt: Nicht beleidigen, das hilft nicht. Wir gewinnen die Wahl nur, wenn wir auch die unentschlossenen Menschen abholen. Dafür muss man anständig mit den Leuten umgehen!
Dann hat Trump losgelegt und auch für Kamala Harris seine typischen Spitznamen kreiert. Viele Republikaner haben aufgeschrien und ihn aufgefordert, sich auf Inhalte und nicht auf Personen zu konzentrieren: Die Grenze ist unsicher, der Wirtschaft geht es schlecht, ich bringe das wieder in Fahrt. Hat es Donald Trump interessiert? Nicht die Bohne. Er hat gemacht, was er wollte.
Du hast während deiner Zeit in den USA viele Menschen aus beiden politischen Lagern getroffen. Welche Themen bewegen die "normalen" Bürgerinnen und Bürger am meisten?
Über die Parteigrenzen hinweg ganz klar Inflation. Was habe ich im Portemonnaie? Das beschäftigt die Leute. Auch in den USA sind die Preise explodiert. Die Problematik hat Biden durch die Nachwirkungen der Pandemie ein Stück weit geerbt. Mittlerweile hat er die Inflation auch einigermaßen unter Kontrolle. Aber die Preise, etwa bei den Lebensmitteln, bleiben hoch. Der Käse wird nicht wieder billiger, Tomaten auch nicht.
Außerdem ist die Migrationspolitik ein großes Thema. Die Gouverneure haben in den vergangenen Jahren ihre Strategie geändert, vor allem Texas hat für große Aufmerksamkeit gesorgt. Da wurden Migranten in Busse gesteckt und nach New York oder nach Washington D.C. gebracht und gesagt: Bitte schön, jetzt kümmert euch mal. Es gab enorm viel Berichterstattung. Das hat Trump geholfen. Migration ist sein Markenthema und auch von konservativen Medien wie Fox News.
Aber auch die Abtreibungspolitik war sehr präsent im Wahlkampf.
Ja, seitdem das bundesweite Abtreibungsgesetz Roe vs. Wade gekippt wurde, kann jeder Bundesstaat seine eigenen Abtreibungsgesetze schaffen. Das hat natürlich für eine riesengroße Debatte gesorgt. Gerade für demokratisch-liberale Menschen und vor allem für viele Frauen ist das auch eines der wahlentscheidenden Themen.
Am Ende können wenige Zehntausend Stimmen in einzelnen Bundesstaaten den Unterschied ausmachen. Eine seriöse Prognose für den Ausgang der Wahl ist daher kaum möglich. Welche Faktoren sprechen eher für Kamala Harris?
Für Harris spricht die Gruppe der sogenannten "silent voters". Das sind Wählerinnen, die nicht laut sagen, dass sie Harris wählen werden. Die Gruppe ist vielleicht größer, als es Umfragen erheben können. Es kann durchaus sein, dass ein gewisser Prozentsatz von Frauen, die bisher republikanisch gewählt haben, am Wahltag die Entscheidung für Harris trifft. Ich bin unschlüssig, ob diese Gruppe groß genug ist. Alleine wird es natürlich nicht reichen. Harris muss auch bei den klassischen demokratischen Wählerinnen und Wählern aus der schwarzen Community, bei den Latinos und bei der jungen Bevölkerung punkten.
"Silent voters" sind Frauen aus eigentlich konservativen Haushalten, die sich nicht trauen, ihre Wahlentscheidung offen am Küchentisch zu äußern?
Genau. Die "Gespaltenen Staaten von Amerika" sagt sich leicht, aber genau dieser Riss geht zum Teil sogar durch Familien. Daran sieht man, wie verhärtet die Lager sind. Gerade bei republikanischen Familien könnte ich mir vorstellen, dass sich Frauen sagen: Ich helfe mit, dass eine Frau ins Weiße Haus einzieht. Gleichermaßen gilt die Gegenargumentation: Viele Männer haben mit Kamala Harris nur deshalb ein Problem, weil sie eine Frau ist.
Was spricht unmittelbar vor dem Wahltag für einen Sieg von Donald Trump?
Mir scheint bei den Republikanern die Parteibindung größer zu sein. Einmal Republikaner, immer Republikaner. Außerhalb der "silent voters" sind sie ihrer Partei sehr treu. Auch bei der Mobilisierung sehe ich Vorteile für Trump, weil er sicher sein kann, dass seine MAGA-Anhänger in jedem Fall zur Wahl gehen. Obwohl sie gegen das "early voting" sind, also gegen die Möglichkeit einer Stimmabgabe vor dem Wahltag, haben Trump und sein Vize J.D. Vance dieses Mal explizit dazu aufgerufen, damit auch ja keine Stimme verloren geht, falls es in den Swing States wieder wahnsinnig knapp werden sollte.
Hast du trotz aller Unwägbarkeiten eine Tendenz, wer gewinnt?
Wenn ich mir die Umfragen in den einzelnen Swing States anschaue, fällt auf, dass Harris in der Endphase des Wahlkampfs stetig leicht verloren hat. Wenn der Trend gegen dich läuft, ist das immer schlecht. Aber es wird unfassbar knapp. Ich kann keine Prognose wagen. Mein Eindruck ist: Wenn wir noch am Wahltag selbst einen Gewinner sehen, ist es eher Donald Trump, weil er alle Swing States gewinnen konnte. Ich glaube, für Kamala Harris wird es, wenn sie gewinnen sollte, knapper.
Mit Christopher Wittich sprach Kevin Schulte. Das Gespräch wurde zur besseren Verständlichkeit gekürzt und geglättet. Das komplette Interview können Sie sich im Podcast "Wieder was gelernt" anhören.
Dieser Text ist eigentlich ein Podcast: Welche Region schickt nur Verlierer in den Bundestag? Warum stirbt Ostdeutschland aus? Wieso geht dem Iran das Wasser aus? Welche Ansprüche haben Donald Trump und die USA auf Grönland?
"Wieder was gelernt" ist ein Podcast für Neugierige. Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein wenig schlauer.
Alle Folgen finden Sie in der ntv-App, bei RTL+, Amazon Music, Apple Podcasts und Spotify. Für alle anderen Podcast-Apps können Sie den RSS-Feed verwenden.
Sie haben eine Frage? Schreiben Sie uns gerne eine E-Mail an podcasts@ntv.de
Quelle: ntv.de