Fragen und Antworten Kämpfen Schulen mit einem Sprachproblem?
12.08.2019, 08:51 Uhr
Über die Sprachqualifikationen von Grundschulkindern ist ein Streit entstanden.
Mit seiner Forderung, dass deutsch sprechen Voraussetzung für den Besuch einer Schule sein sollte, hat CDU-Politiker Carsten Linnemann polarisiert. Wie sehr kämpfen deutsche Schulen mit einem Sprachproblem und wie sehr geht es im Kern um eine Bildungsmisere, wenn nicht genug Personal und Mittel da sind? Fragen und Antworten zur aktuellen Bildungsdebatte.
Kinder, die noch kein deutsch sprechen, von den anderen Kindern zu trennen - ist Carsten Linnemanns Forderung ein gängiges Konzept?
Es ist eines von vier Modellen, die in Deutschland angewandt werden, um Sprache zu fördern. Da Bildung Ländersache ist, sind alle Bundesländer frei darin, ihre Strategie für den Umgang mit Kindern, die nicht deutsch sprechen, selbst zu wählen. Die hessische Landesregierung fährt das sogenannte "parallele" Modell, das die Kinder mit Sprachförderbedarf von den übrigen Kindern trennt und in eigenen Klassen und Kitagruppen betreut. Das entspricht am ehesten der Forderung Linnemanns.
Der Vorteil des "parallelen" Konzepts ist, dass Lehrer oder Erzieherinnen sich auf die besonderen Bedürfnisse der Sprachlerner konzentrieren können. Die neue Sprache steht im Mittelpunkt. Als nachteilig gilt, dass die Kinder als Sprachvorbild nur die Lehrkraft haben. Kinder lernen jedoch eine Sprache naturgemäß anders als Erwachsene, nicht durch Übungen und das Erlernen der Grammatik, sondern spielerischer, im normalen Umgang miteinander und ohne nachzudenken. Das "parallele" Konzept nutzt kaum diese kindliche Fähigkeit eine Sprache zu lernen.
Wie sehen die anderen drei Konzepte aus?
Das radikalste Eingliederungsmodell sieht überhaupt keine zusätzliche Unterstützung für die Kinder vor. Sie sollen die Sprache im Regelunterricht und von ihren Mitschülern lernen. "Kein Bundesland fährt diese Strategie systematisch. Aber einzelne Schulen wenden dieses Modell häufig in der ersten und zweiten Klasse an", sagt Mona Massumi, Bildungsforscherin am Mercator Institut der Universität Köln im Gespräch mit n-tv.de. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht rät sie davon ab. "Das Kind bleibt völlig auf sich allein gestellt, das kann man als Bildungseinrichtung nicht verantworten. Selbst wenn es einzelne Kinder gibt, die es auf diese Weise schaffen." Die meisten Schulen, die dieses Modell verfolgen, koppeln es denn auch mit dem zweiten, dem "integrativen" Modell und bieten den Kindern zusätzlich zu ihrem normalen Unterricht in der Regelklasse gezielte Sprachförderung an. So verfahren Schulen in Rheinland-Pfalz oder Sachsen-Anhalt.
Im dritten Konzept gehen die Neuankömmlinge in eine für sie eingerichtete Klasse, nehmen jedoch in Fächern wie Sport oder bei Projekten am Regelunterricht teil. Es ist "teilintegrativ". Die schleswig-holsteinische Landesregierung hat mit diesem Modell gute Erfahrungen gemacht. "Die Kinder haben von Anfang an Kontakt zu Gleichaltrigen, und das halte ich auch für dringend erforderlich", sagt Bildungsministerin Karin Prien. "Dieses System unterstützen wir mit sehr vielen Lehrkräften und einem hohen finanziellen Aufwand."
Welches Modell funktioniert am erfolgreichsten?
Es gibt keine zentrale Auswertung und auch in den Ländern kaum Erhebungen zum Effekt der Methoden. Forscherin Massumi hat als erste den Erfolg von Integrationsbemühungen an Schulen untersucht und festgestellt, dass gute und individuelle Förderung häufiger in den separaten Klassen stattgefunden hat. "In Regelklassen passiert es öfter, dass Neuzugewanderte unsichtbar bleiben. Man hat dort mehr Schüler, den strikten Lehrplan, und es fehlen auch häufig die professionellen Fähigkeiten, mit diesen Schülern umzugehen."
Letztlich sei jedoch das Modell nicht entscheidend, da es nur die formalen, organisatorischen Bedingungen vorgibt. "Es trifft keine Aussage darüber, wie die Qualität des Unterrichts ist, wie professionell die Lehrkraft ist", sagt die Bildungsexpertin. "In meiner Forschung konnte ich zeigen, dass es Lehrkräfte in Regelklassen gibt, die unheimlich gut individuell fördern konnten. Wir sehen auch in allen Modellen Lehrerinnen und Lehrer, die dazu nicht in der Lage sind. Egal, ob in einer Regelklasse oder einer spezifischen Klasse." Darum sei eines absolut notwendig: Alle Lehrkräfte müssten sich zwingend mit Sprachbildung auseinandersetzen.
Passiert das denn?
Ja, aber aus Sicht Massumis viel zu wenig. Nordrhein-Westfalen war 2009 Vorreiter, als für alle Lehramtsstudierenden ein Fach für Sprachförderung eingeführt wurde, unabhängig davon, welche Fächer sie unterrichten wollten. Aber drei Seminare mit Prüfung reichen nach Meinung der Bildungsexpertin heute bei Weitem nicht mehr aus. Dazu ist die Gesellschaft und damit auch die Schule zu heterogen. "Solch ein Querschnittsthema muss in jedem Seminar, in den Unterrichtsfächern, in den Bildungswissenschaften, in der Grundausbildung verankert sein und immer wieder kommen", fordert Massumi. "Es gibt aber keine einheitliche Vorbereitung der Lehrkräfte. Das ist problematisch."
Carsten Linnemann kritisiert, ein Migrationsanteil von 30 bis 40 Prozent in einer Klasse senke oft das Leistungsniveau insgesamt ab. Stimmt das?
Nein, das stimmt nicht. Die Frage, ob ein Kind Migrationshintergrund hat oder nicht, sagt nichts darüber aus, ob es gut deutsch spricht, ob es schlau und wissbegierig ist oder nicht. Die Frage müsste lauten: Senkt ein Anteil von 30 bis 40 Prozent Kindern, die nicht gut deutsch sprechen, das Leistungsniveau ab? Belege aus der Forschung gibt es dafür nicht. Es kann also nur ein Blick in die Praxis helfen.
"In Berlin-Neukölln gibt es bei vielen Schülern ein Sprachdefizit, auch bei deutschen Kindern", sagt Daniela von Hoerschelmann von der Berliner Landeselternvertretung zu n-tv.de. "Hier ist es eine echte Herausforderung für die Kinder und Lehrer, deutsch als gemeinsame Hauptsprache zu installieren und immer wieder zu kontrollieren, auch auf dem Pausenhof. Aber die meisten Schulen hier bekommen das ganz gut hin. Vor allem Schulen mit 90 Prozent oder mehr Migrationsanteil sind darauf eingestellt." Ab welchem Anteil von Sprachdefiziten die Klasse überfordert ist, vermag von Hoerschelmann nicht einzuschätzen. Die Gefahr von Überforderung sieht sie jedoch.
Karin Petzold leitet den Schulbereich bei der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in Berlin. Ein Problem mit vielen Sprachlernern sähe sie beim früher verbreiteten Frontalunterricht. "Ich kann nicht zu einer Klasse mit so vielen unterschiedlichen Sprachniveaus sagen: 'Schlagt Seite 3 auf und bearbeitet Aufgabe 1.' Das kann nicht klappen."
In ihrer eigenen Lehrsituation hat sie jedoch kein solches Problem, denn sie unterrichtet jahrgangsübergreifend. "Ich arbeite mit Kindern aus der ersten, zweiten und dritten Klasse zusammen. Wir machen nie alle das gleiche, manchmal macht jedes der Kinder was anderes." In jahrgangsübergreifenden Klassen werden alle Kinder gemäß ihren Fähigkeiten gefördert. Eine Drittklässlerin, die ihren Aufsatz gliedert, leidet nicht darunter, dass ihre Banknachbarin aus der ersten Stufe vielleicht tagelang trainiert ein "A" zu schreiben. "Wieviele Kinder auf welchem Niveau arbeiten, ist aus meiner Sicht nicht entscheidend", sagt Petzold.
Allerdings funktioniert dieser individuelle Unterricht nur, wenn die Lehrerin genug Kapazität hat, wenn regelmäßig im Team unterrichtet wird. Dafür braucht man viel und fähiges Personal. Das Hauptproblem in der Bildung sieht Petzold nicht bei den gemischten Klassen, nicht bei den Willkommenskindern, sondern bei der Politik. Sie sei verantwortlich für die Notsituation an vielen Schulen. "Es sind keine Erzieher und keine Lehrer auf dem Markt, die gut ausgebildet wären. Die Klassen werden immer bunter, gleichzeitig aber auch immer größer. So kann man den Kindern nicht gerecht werden."
Ist die Bildungssituation tatsächlich so schlecht?
Ende August zählte der Lehrerverband bundesweit 10.000 unbesetzte Stellen. Das Land Berlin hat seine offenen Lehrerstellen zu zwei Dritteln mit Quereinsteigern besetzt, auch an Karin Petzolds Schule. "Von den neuen Kollegen an unserer Schule sind die wenigsten ausgebildet. Die meisten müssen wir jetzt erst mal selbst ausbilden. Dann steht zwar jemand vor der Klasse aber weiß gar nicht, was sie tun soll. Wie soll jemand ganz neu anfangen mit so bunten Kindern?"
Mit über 50 Prozent Migrationsanteil bekommt ihre Schule in Berlin-Spandau vom Senat besondere Zulagen. "Früher hätte man uns als Brennpunktschule bezeichnet, heute sagt man, wir nähmen teil am Bonusprogramm." Das hilft: Die Schule hat eine Internetquelle in jedem Klassenzimmer, einige Smartboards, einen Klassensatz Computer und dieselbe Zahl Laptops. Die kindgerechten Übersetzungs-Apps, die es mittlerweile gibt, können sie dennoch nicht nutzen. Das WLAN ist zu schwach. Sehr hilfreich sind die beiden Kolleginnen, die speziell für Sprachförderung zuständig sind und bei Problemen kreative Lösungen aufzeigen. "Die Elternbriefe versehen wir mit Piktogrammen. Das Bild von einem Rucksack vor einem Baum bedeutet: Wir machen einen Ausflug."
Wie wichtig ist die Zeit vor der Schule für die Sprachförderung?
Sprachförderung in Kitas wird schon deshalb immer wichtiger, weil immer mehr Einwanderfamilien ihre Kinder in Kitas schicken. Eine Umfrage unter Familien nichtdeutscher Herkunft aus dem Jahr 2017 ergab, dass knapp 90 Prozent der Kinder ab drei Jahren zur Kita gehen.
Gerade im Kita-Alter sehen Bildungsforscher sehr viele Möglichkeiten für spielerische, beiläufige Sprachförderung, sowohl durch Vorlesen, durch Rollenspiele oder auch, indem Erzieherinnen gezielt Situationen schaffen, in denen die Kinder das Bedürfnis und die Lust verspüren zu reden.
Die Mercator Studie kommt zu dem Ergebnis, dass man das Personal für die Sprachförderung speziell schulen muss. Massumi sieht hier Defizite. "Ich habe selber Erzieherinnen ausgebildet und weiß, dass Sprachförderung ein Teil dessen ist. Aber das ist noch immer marginal, da passiert viel zu wenig."
Wenn Kinder zu Hause nicht mit deutscher Sprache in Kontakt kommen und nicht zur Kita gehen, haben sie kaum Chancen vor der Schule die Sprache zu lernen. Was dann?
Bis auf Thüringen und Sachsen-Anhalt führen alle Bundesländer mittlerweile ein bis zwei Jahre vor der Einschulung Sprachtests und Untersuchungen durch. So geraten Kinder mit Defiziten in den Blick. Im Land Berlin werden sie daraufhin 15 Monate lang verpflichtend gefördert. Doch Carsten Linnemann kritisiert zurecht, dass längst nicht alle Bundesländer bei einem schlechten Ergebnis auch Konsequenzen folgen lassen. Problematisch ist auch, dass die 14 testenden Länder dafür 14 komplett unterschiedliche Verfahren benutzen – mal mit vorgegebenen Übungen, mal mit Beobachtung des Kindes. Mal vom Gesundheitsamt durchgeführt, mal ist das Sozialamt zuständig. Das macht einen länderübergreifenden Vergleich der Ergebnisse unmöglich.
Wie gut sind die Bedingungen für Sprachförderung in Kitas?
Gute Sprachförderung setzt auch einen guten Personalschlüssel in der Kita voraus. Hier gibt es auch große Unterschiede zwischen den Bundesländern. Eine sächsische Erzieherin ist für knapp sechs Kinder unter drei Jahren zuständig. Ihre Kollegin in Baden-Württemberg kann sich auf drei Kinder konzentrieren. Der Personalschlüssel aller übrigen Länder liegt irgendwo dazwischen. Darüber hinaus gibt es nicht genug freie Plätze für alle kleinen Kinder in Deutschland. "Die Kitaplatzsituation, besonders in Großstädten ist desolat", sagt Mona Massoumi.
Wie desolat?
Im vergangenen Jahr fehlten in Deutschland 300.000 Kitaplätze. Wenn man also, gemäß mancher Forderung, in Deutschland eine Kitapflicht ins Gesetzbuch schreiben möchte, müssten Bund und Länder erst mal sichern, dass ausreichend Plätze für alle zur Verfügung stehen. Für die nahe Zukunft macht der Bildungsbericht eine düstere Prognose: Bei einer gleichbleibenden Zahl von neuausgebildeten Erziehern errechnet er bis zum Jahr 2025 eine Personallücke von über 300.000 Fachkräften. Von einer Situation, in der jede Familie, die es wünscht, ihr Kind in eine Kita geben kann, ist Deutschland also weit entfernt – ganz zu schweigen von einer umfassenden Sprachförderung in Kitas und Schulen.
Quelle: ntv.de