Karte zur Lage im Ukraine-Krieg Wo Ukrainer russische Truppen angreifen
07.09.2022, 15:39 Uhr
Erstarkende Gegenwehr: Ukrainische Soldaten beim Stellungsbau, hier im Süden der Ukraine.
(Foto: picture alliance / abaca)
Überraschender Vorstoß im Osten der Ukraine: Weit abseits der Gefechte bei Cherson gehen ukrainische Einheiten an der Front im Osten zum Angriff über. Gerät Putins Invasionsarmee auch dort in die Defensive?
Im Krieg in der Ukraine zeichnen sich umwälzende Bewegungen ab: Das russische Militär verliert allem Anschein nach zunehmend die militärische Initiative. Jüngsten Berichten zufolge sehen sich die russischen Invasoren längst nicht mehr nur im Süden der Ukraine bei Cherson mit ukrainischen Gegenangriffen konfrontiert.
Auch an weiteren Frontabschnitten können die Streitkräfte der Ukraine offenbar den Druck erhöhen. Zuletzt kursierten etwa Aufnahmen in sozialen Netzwerken, die ukrainische Truppen am Ortsrand der Kleinstadt Balaklija südöstlich der Millionenstadt Charkiw im Nordosten der Ukraine zeigten. Die Ortschaft liegt am nördlichen Ufer des Don-Nebenflusses Siwerskyj Donez rund 70 Kilometer vom Charkiwer Stadtzentrum entfernt.
Russische Kriegsreporter räumten zuletzt schwere Kämpfe bei Balaklija ein. Bei einem überraschenden Angriff hätten ukrainische Truppen dort russische Stellungen überrannt, heißt es. Die Siedlung Werbiwka sei zurückerobert worden. Anschließend seien ukrainische Einheiten bis nach Balaklija vorgerückt. Offizielle Angaben aus Kiew gibt es dazu bislang nicht. In den Lageberichten der ukrainischen Streitkräfte finden beiden Orte bislang keine Erwähnung.
Westliche Geheimdienstexperten jedoch bestätigen, dass in der Region Charkiw intensive Gefechte aufgeflammt sind. Schon seit mehreren Tagen soll demnach in dem Gebiet ein ukrainischer Gegenangriff laufen. Die Stadt Balaklija, die vor dem Krieg rund 27.000 Einwohner zählte, liegt zwischen Charkiw und dem russisch-besetzten Isjum, wo sich ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt für den russischen Nachschub befindet.
Im Fall eines größeren Frontdurchbruchs müssten die russischen Truppen fürchten, ähnlich wie bei Cherson von ihren rückwärtigen Verbindungen abgeschnitten zu werden. Die Bewegungen an der Front bei Charkiw scheint die Invasoren nervös zu machen: Der pro-russische Separatistenführer Danijl Bessonow aus dem russisch-besetzten Teil der Region Donezk äußerte sich ungewöhnlich offen zur Lage. Seinen Angaben zufolge begann der Vorstoß der ukrainischen Streitkräfte am Dienstag mit einem seit längerer Zeit vorbereiteten Angriff auf Balaklija.
Sämtliche Zugänge nach Balaklija seien mittlerweile wegen des Beschusses nicht mehr nutzbar, erklärte Bessonow auf Telegram. Sollte die Stadt fallen, würden die russischen Streitkräfte in Isjum an ihrer Nordwestflanke verwundbar, fügte er unumwunden hinzu. Die ukrainischen Vorstöße könnten zudem auf die Stadt Kupjansk zielen, spekulierten andere russische Beobachter. Die Rückeroberung von Balaklija würde zudem den russischen Brückenkopf südlich der Stadt abriegeln und einen der wenigen Übergänge über den Siwerskyj Donez blockieren.
Für die russische Seite ergeben sich aus den Angriffen bei Charkiw aber schon jetzt gravierende Konsequenzen: Die militärischen Kräfte des Kreml müssen sich auf weitere Brand- und Krisenherde entlang der mehr als 1000 Kilometer langen Frontlinie einstellen. Die Verlagerung von Einheiten zur Verstärkung der bedrohten Frontabschnitte erfordert zusätzlichen Aufwand. Und mit Blick auf die groß angekündigte Offensive im Großraum Cherson dürfte die russische Seite ihre verfügbaren Reserven in den vergangenen Wochen bereits Hunderte Kilometer nach Südwesten an den Dnipro verlegt haben.
Noch ist allerdings unklar, ob die etwaigen ukrainischen Erfolge am Siwerskyj Donez wirklich den Beginn einer zweiten Großoffensive markieren - oder ob sie tatsächlich nicht viel mehr darstellen als nur taktisch begrenzte Entlastungsangriffe. Ihren Hauptzweck dürfte die Attacke bei Charkiw jedoch schon jetzt erfüllt haben: Putins Generäle können die Bedrohung der zunehmend erstarkenden Verteidiger der Ukraine nicht einfach ignorieren. Kiew versucht, die russischen Besatzer an mehreren Stellen der Front unter Zugzwang zu setzen.
Quelle: ntv.de, mit Material von rts