Reisners Blick auf die Front "Ohne US-Hilfe steht die Ukraine in drei Monaten auf der Kippe"
27.01.2025, 19:57 Uhr Artikel anhören
Ukrainische Soldaten an der Front im Donbass
(Foto: IMAGO/NurPhoto)
Die Ukraine verteidigt ihr Territorium nicht mehr, sondern verzögert nur noch die Eroberungen der russischen Truppen. So lautet die Analyse von Oberst Markus Reisner. Nun dürfen die USA nicht als Unterstützer ausfallen, sonst könnte die Front sehr schnell kollabieren, erklärt der österreichische Historiker im Interview mit ntv.de.
ntv.de: Am Wochenende kamen Meldungen aus den USA, mit der Entscheidung der Trump-Regierung, alle Hilfspakete für das Ausland vorerst einzustellen, sei auch die Ukraine betroffen. Mittlerweile scheint das vom Tisch, aber wie bedrohlich war die Situation?
Markus Reisner: Der Vorgang zeigt, wie prekär die Lage für die Ukraine ist. Würden die USA ihre Hilfen tatsächlich komplett einstellen, dann wären die Europäer gefordert, den Ausfall zu kompensieren. Können sie das? Wollen sie das? Die Ukraine selbst hätte aufgrund der starken Schäden durch die ständigen russischen Luftangriffe gegen die kritische Infrastruktur das Problem, dass sie auch nur eingeschränkt das Material produzieren und an die Front liefern könnte, das dort gebraucht wird. Die Situation derzeit lässt aus meiner Sicht den Schluss zu: Wird Kiew nicht mehr aus den USA unterstützt, dann steht der Fortbestand der Ukraine in den kommenden drei Monaten auf der Kippe.
In den kommenden drei Monaten? So bald würden Sie dann eine Niederlage erwarten?
Zwei Quellen, eine russische und eine ukrainische, berichteten jüngst von einem Briefing, das der Chef des Verteidigungs-Geheimdienstes (HUR), General Kyrylo Budanow, vor dem ukrainischen Parlament gehalten haben soll. Dabei soll er gesagt haben, die Situation sei sehr ernst. Wenn es nicht zu einer massiven weiteren Unterstützung komme, stehe die Existenz der Ukraine auf dem Spiel. Inzwischen wurde die Aussage dementiert, der Geheimdienst hat erklärt, sie sei in dieser Form nie getroffen worden. Trotzdem zeigt dieser Vorfall wie nervös man in der Ukraine ist, und das auch hinsichtlich der erwähnten drei Monate oder einhundert Tage. Das kann sehr schnell gehen, wenn westliche Unterstützungsleistungen nicht mehr vorhanden sind.

Markus Reisner ist Historiker und Rechtswissenschaftler, Oberst des Generalstabs im Österreichischen Bundesheer und Leiter des Institutes für Offiziersgrundausbildung an der Theresianischen Militärakademie. Wissenschaftlich arbeitet er u.a. zum Einsatz von Drohnen in der modernen Kriegsführung. Jeden Montag bewertet er für ntv.de die Lage an der Ukraine-Front.
(Foto: privat)
Woran denken Sie als Erstes?
Es geht nicht nur um Waffensysteme und Munition dabei. Es geht auch um finanzielle Mittel. Denken Sie darüber hinaus an strategische Zielaufklärung. Wir wissen ja aufgrund verschiedener Berichte, wie sehr das US-amerikanische Militär der Ukraine bei der Aufklärung zur Seite steht. Etwa, um den targeting process, also die Zielauswahl für Angriffe, zu unterstützen. Stoppt all das jetzt radikal, dann kommt es zu einer asymmetrischen Situation zulasten der Ukraine.
Diese Gefahr wurde erst einmal abgewehrt, aber parallel dazu gibt es andere Vorgänge zwischen den Mächten. Wie verstehen Sie das Verhalten des US-Präsidenten Donald Trump mit Blick auf Russlands Präsidenten Wladimir Putin?
Trump kündigt weitere Sanktionen gegen Russland an. Diese schaden der russischen Wirtschaft, aber auf der Zeitachse sehr verzögert. Das hat keine unmittelbaren Auswirkungen, und die Frage ist dann nicht: Wie lange kann Russland einen solchen Zustand durchhalten, sondern: Wie lange kann die Ukraine durchhalten? Zu Sanktionsvorhaben gibt es den Plan, den Ölpreis auf dem Weltmarkt zu drücken, indem die USA die eigene Öl-Förderung hochfahren. Ziel ist, die Einnahmen Russlands am Ölexport deutlich zu verringern. Beide Schritte, so sie denn kommen, wären für mich ein Indiz dafür, dass Trump gegenüber Putin nach dem Motto "Zuckerbrot und Peitsche" vorgehen will. Ansonsten lässt sich aus den verschiedenen Berichten zum diplomatischen Geschehen heraushören, dass Trump und Putin wohl als Nächstes miteinander telefonieren werden. Dann könnte man die nächsten Schritte angehen für ein mögliches Treffen, eventuell auch mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj.
Sie sagen "Zuckerbrot und Peitsche". Was hätte Trump als Zuckerbrot zu bieten?
Mit einer Lockerung oder gar einem Stopp der Sanktionen könnte Trump Putin entgegenkommen. Dann auch mit einer Garantie, dass die Ukraine nicht Teil der NATO sein wird - eine der Kernforderungen Putins. Dann müsste die Ukraine die notwendigen Sicherheitsgarantien von anderer Seite bekommen. Zum Dritten stellt sich die Frage der demilitarisierten Zone. Hier in Europa herrscht die Vorstellung: Es gibt die Frontlinie, dort wird ein Waffenstillstand herrschen, und die demilitarisierte Zone würde dann zehn, 15 oder auch 20 Kilometer breit links und rechts entlang dieser Linie verlaufen. Nach meiner Einschätzung sehen die Russen das völlig anders. Sie sehen diese Zone komplett ostwärts des Flusses Dnepr.
Das würde heißen, die Demarkationslinie würde viel weiter im Westen verlaufen, als wir uns das derzeit vorstellen? Also weiter vorgerückt auf dem Gebiet der Ukraine?
Deutlich weiter, ja. Denn nur mit der Zone so weit im Westen wäre auszuschließen, dass die Ukraine mit weitreichenden Waffen Moskau bedrohen könnte. Westliche Systeme, Marschflugkörper wie SCALP aus Frankreich und die britischen Storm Shadow reichen bis zu 560 Kilometer weit. Will man verhindern, dass sie Moskau bedrohen könnten, dann dürften diese Waffen nicht im Raum östlich des Dnepr stehen. So ist die russische Sicht. Dieser Faktor könnte zum Beispiel auch Teil der Verhandlungen sein, und auch hier könnte Trump Putin entgegenkommen.
Mit welchen Optionen würde man in die Verhandlungen gehen?
Am Ende scheint noch immer alles möglich - von einer Niederlage der Ukraine, über einen Diktatfrieden nach Russlands Vorstellungen oder einen Waffenstillstand mit eingefrorener Frontlinie bis hin zu einem würdevollen Frieden für die Ukrainer. Für die letzten beiden Optionen wären weiter massive Hilfslieferungen und dazu Sicherheitsgarantien des Westens notwendig.
Die USA drängen die Ukraine, nun auch die 18- bis 25-Jährigen zu mobilisieren. Gehen Sie da mit?
Die USA argumentieren, dass die Ukraine ansonsten den Verteidigungskampf nicht mehr lange genug durchhalten kann. Aufgrund der demografischen Situation ist das zugleich eine sehr schwierige Entscheidung, um die sich der Präsident derzeit noch versucht herumzudrücken. Das zumindest ist mein Eindruck. Fakt ist aber, dass die Ukraine aus der Verteidigung heraus nicht gewinnen kann. Wenn sie das Gelände des verlorenen Territoriums zurückerobern will, muss sie wieder in den Angriff gehen. Davon ist die Armee derzeit weit entfernt.
Was passiert derzeit beim Thema Nachschub?
Es wird jetzt die nächste Welle neuer Brigaden aufgestellt, mit den Nummern 155 bis 160. Die sind zum Teil recht gut ausgestattet, mechanisierte Brigaden, etwa mit neu gelieferten Leopard I und Leopard II-Kampfpanzern. Die Herausforderung besteht darin, dass solche Einheiten oft sofort an die Front geschickt werden, weil dort aufgrund der Ausdünnung überall Not am Mann ist. Man versucht also, all die Lücken zu stopfen, durch die russische Soldaten sonst wie Wasser eindringen. Noch bleibt es bei der Analyse der vergangenen Wochen: Die Ukraine verteidigt nicht mehr, sondern verzögert nur noch den kontinuierlichen Vormarsch der Russen. Sie gibt Territorium preis, und das jeden Tag.
Am Wochenende ist Welyka Nowosilka gefallen. Welche Folgen hat das?
Die Stadt liegt südlich von Pokrowsk und war von drei Seiten eingekesselt, als nächstes wird vermutlich Torezk östlich von Pokrowsk fallen. Faktisch ist Torezk schon eingenommen. Im Moment laufen heftige ukrainische Gegenangriffe. Wenn diese Kessel zerschlagen werden, kann die russische Seite aufschließen und ihre Front spürbar verkürzen. Es werden Kräfte frei, die sie an anderer Stelle einsetzen kann.
In Kursk ist inzwischen der zentrale Knotenpunkt der ukrainischen Gegenoffensive unter Feuer der Russen. Wie lange kann die Ukraine dort noch durchhalten? Sie argumentiert, jeder Tag sei es wert, um diesen Faustpfand in möglichen Verhandlungen zu haben. Doch wie lange dauert es noch bis zu Verhandlungen, und wird es dann tatsächlich reichen, dieses Gelände im Besitz zu haben? Das muss sich zeigen. Es ist ein Fegefeuer.
Wenn im Donbass, im Raum Pokrowsk zwei Ortschaften fallen, was bedeutet das für die Gesamtlage?
Dahinter, also westlich von Nowosilka, hat die Ukraine keine umfangreichen, gut ausgebauten Stellungen. Sie hat in den vergangenen Monaten versucht, Verteidigungsstellungen auszubauen und bemüht sich auch gegenwärtig darum. Aber konfrontiert mit zwei Herausforderungen: Zum einen: Je näher dieser Stellungsausbau zur Front passiert, desto häufiger kommen die Arbeiten unter Beschuss russischer Waffensysteme. Das kann Artillerie sein, aber auch First-Person-View-Drohnen. Auf Videos ist zu sehen, wie Bagger auf diese Weise angegriffen werden. Zum anderen kann hier auch Korruption ein Problem sein. Stellungen werden nicht so gut ausgebaut, wie es vorgesehen ist und beauftragt wurde. Dazu kommt als drittes Element die Knappheit der Ressourcen. Ob das nun Bauarbeiter sind oder Baumaschinen. Ob es Material ist wie Stahl, Beton oder einfach nur Holz. Und dann passiert das alles unter massivem Zeitdruck.
Es ist also zu befürchten, dass sich die Situation, je weiter die Front nach Westen rückt, nochmal verschärft?
Die große Sorge ist, dass es schließlich trotz aller Gegenwehr zu einem Dammbruch kommt. Zu einem Durchstoß der Russen. Momentan gibt es keine Indikatoren, die darauf unmittelbar hinweisen. Aber wenn sich an all den unterschiedlichen Stellschrauben an der Front mehrere gleichzeitig zum Negativen drehen, dann kann es sehr wohl dazu kommen.
Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer
Quelle: ntv.de