Politik

Ausgangssperre ausgerufen Proteste in Tunis enden mit Straßenkämpfen

Gegner und Anhänger von Präsident Saied lieferten sich Straßenschlachten, mehrere Menschen wurden verletzt.

Gegner und Anhänger von Präsident Saied lieferten sich Straßenschlachten, mehrere Menschen wurden verletzt.

(Foto: imago images/NurPhoto)

Nachdem Tunesiens Präsident Saied Ministerpräsident Mechichi entmachtet hat, wittern dessen Gegner einen Putschversuch und liefern sich heftige Straßenkämpfe mit seinen Anhängern. Das Auswärtige Amt ist höchst besorgt, die EU reagiert.

In Tunesien haben sich einen Tag nach der überraschenden Entlassung von Regierungschef Hichem Mechichi Gegner und Anhänger von Präsident Kais Saied Straßenschlachten geliefert. Vor dem kaltgestellten Parlament in Tunis bewarfen sich beide Seiten mit Steinen, mehrere Menschen wurden verletzt. Parlamentspräsident Rached Ghannouchi rief die Tunesier zu Protesten auf und sprach von einem Staatsstreich. Die Armee zog vor dem Parlamentsgebäude auf und hinderte Ghannouchi daran, es zu betreten. Außerdem wurden Soldaten an den Regierungssitz verlegt. Die Armeespitze nahm zunächst aber nicht öffentlich Stellung zu den Vorgängen.

Zudem wurde eine abendliche Ausgangssperre ausgerufen. Diese gelte ab sofort bis zum 27. August von 19.00 Uhr bis 06.00 Uhr, hieß es in einer Erklärung des Präsidialamts auf Facebook. Ausnahmen gebe es nur für dringende medizinische Notfälle und Nachtarbeiter. Zudem dürften sich nicht mehr als drei Menschen in der Öffentlichkeit treffen.

Staatspräsident Saied hatte am Sonntag Mechichi entlassen und anschließend angeordnet, das Parlament müsse seine Arbeit für 30 Tage aussetzen. Der Regierungschef hält sich nach Angaben ihm nahestehender Personen in seinem Haus auf, steht aber nach Informationen aus Sicherheitskreisen nicht unter Hausarrest.

Der Präsident hob zudem die Immunität der Abgeordneten auf und drohte für den Fall gewaltsamem Widerstands mit einem Einsatz der Armee. "Viele Menschen wurden mit Heuchelei, Verrat und Raub um die Rechte des Volkes betrogen", sagte Saied. Er warne davor, zu Waffen zu greifen. "Wer eine Kugel abfeuert, dem werden die Streitkräfte mit Kugeln antworten."

Bei den gewalttätigen Ausschreitungen wurden mehrere Menschen verletzt.

Bei den gewalttätigen Ausschreitungen wurden mehrere Menschen verletzt.

(Foto: picture alliance / AA)

Er kündigte an, den Verteidigungs- sowie den Justizminister zu entlassen und die Regierungsgeschäfte an der Seite eines neuen Ministerpräsidenten zu übernehmen. Wer das sein könnte, blieb zunächst offen. Tunesien kämpft mit einer Wirtschaftskrise, drohenden Haushaltsproblemen und einer schleppenden Bewältigung der Corona-Krise.

Landesweite Proteste gegen Regierung

Saied entschloss sich, den Ministerpräsidenten aus dem Amt zu drängen, nachdem es zu mehrtägigen Protesten gegen die Regierung und die Ennahda-Partei von Parlamentspräsident Ghannouchi gekommen war. Die gemäßigt islamistische Gruppierung ist die größte Partei in Tunesien und war in der Vergangenheit an mehreren Regierungskoalitionen beteiligt. Der parteilose Saied rechtfertigte sein Vorgehen mit der Verfassung, die ihm das Recht gebe, gegen die seit Jahren anhaltende wirtschaftliche und politische Blockade vorzugehen. Er hatte bei seinem Amtsantritt 2019 angekündigt, das komplexe und von Korruption geprägte System zu reformieren.

Demonstranten versuchten über das Tor des Regierungsgebäudes zu klettern.

Demonstranten versuchten über das Tor des Regierungsgebäudes zu klettern.

(Foto: picture alliance / AA)

Mehrere Zehntausend Menschen in Tunis und anderen Städten feierten auf den Straßen die Maßnahmen des Präsidenten. Am frühen Montag schloss er sich den Feiernden auf der zentralen Allee Habib Bourguiba in Tunis an, wie Bilder des staatlichen Fernsehens zeigten. Die Hauptverkehrsader in Tunis war Ausgangspunkt der demokratischen Revolution 2011.

Zwei Augenzeugen sagten, eine in der Nähe vom Regierungssitz versammelte Menschenmenge habe die Ankunft des Militärs bejubelt und die Nationalhymne angestimmt. Lokale Medien berichteten, die Armee habe auch das Gebäude des staatlichen Fernsehens umstellt, Hubschrauber kreisten über der Stadt. Die Polizei habe Tränengas eingesetzt, um Menschen zu vertreiben, die am späten Sonntag versuchten, den Sitze der Ennahda-Partei in Tunis zu stürmen.

EU ruft zu Gewaltverzicht auf

Neben Ennahda erklärten zwei weitere wichtige Parteien - Herz von Tunesien und Karama -, Saied habe gegen die Regierung geputscht. Das Ennahda-Mitglied Imed Ayadi zog einen Vergleich zwischen Saied und dem ägyptischen Präsidenten Abdel-Fattah al-Sisi, der 2013 an der Spitze des Militärs den der Muslim-Bruderschaft nahestehenden Präsidenten Mohamed Mursi von der Macht vertrieben hatte. "Saied ist der neue Sisi, der alle Macht auf sich vereinen will. (...) Wir werden dem Putsch gegen die Revolution die Stirn bieten." Vor zehn Jahren war der Autokrat Zine al-Abidine Ben Ali nach rund 25-jähriger Herrschaft gestürzt worden.

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Die Europäische Union rief in einer ersten Reaktion alle politischen Akteure zum Gewaltverzicht und Respekt vor der Verfassung auf. In Berlin zeigte sich das Auswärtige Amt sehr besorgt über die Entwicklung. Tunesien sei aufgefordert, schnell zur verfassungsmäßigen Ordnung zurückzukehren. Die Aussetzung der Arbeit des Parlaments gehe auf "eine recht weite Auslegung der Verfassung" zurück. "Wir möchten nicht von Putsch sprechen", sagte die Sprecherin auf die Frage eines Journalisten.

Tunesien ist das einzige Land, das als Demokratie aus dem Arabischen Frühling hervorgegangen ist. In der Bevölkerung herrscht jedoch Unzufriedenheit, weil die Schere zwischen Arm und Reich weit auseinanderklafft.

Quelle: ntv.de, can/rts

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