Politik

Entrussifizierung in der Ukraine Puschkin und Tolstoi müssen weichen

imago0157254965h.jpg

Das Denkmal der ukranisch-russischen Freundschaft unter dem Bogen der Völkerfreundschaft wurde bereits Ende April abmontiert.

(Foto: IMAGO/ZUMA Wire)

In zahlreichen ukrainischen Städten gibt es Pläne, Puschkin-Straßen umzubenennen und Tolstoi-Denkmäler zu entfernen. Diese "Entrussifizierung" richtet sich nicht gegen die Schriftsteller, sondern gegen sowjetische Propaganda, für die sie benutzt wurden.

Spätestens seit der russischen Annexion der Krim und dem Beginn des Kriegs im Donbass 2014 wird in der Ukraine die "Entsowjetisierung" und "Entrussifizierung" geografischer Namen und Denkmäler diskutiert. Bereits während der Maidan-Revolution fing der Abbau von Lenin-Denkmälern an, zunächst in Form spontaner Aktionen, später als Teil einer gezielten Politik der sogenannten Entkommunisierung mit offiziellen Kriterien für Umbenennungen und Denkmalabrisse.

Bis 2018 wurden die meisten Reminiszenzen an die sowjetische Herrschaft in der Ukraine entfernt. Unter anderem wurden die Großstädte Dnipropetrwosk und Kirowohrad umbenannt. Petrowski wie auch Kirow waren sowjetische Funktionäre; die eine Stadt heißt nun Dnipro wie der Fluss, an dem sie liegt, die andere heißt Kropywnyzkyj, nach dem ukrainischen Schriftsteller Marko Kropywnyzkyj, der Ende des 19. Jahrhunderts in der Stadt, die nun seinen Namen trägt, eine Theatergruppe ins Leben gerufen hatte.

Landesweit wurden in der Ukraine in den vergangenen Jahren alleine mehr als 1300 Lenin-Denkmäler abgerissen. Mit der russischen Großinvasion vom 24. Februar hat das Thema einen neuen Maßstab bekommen. Schon kurz nach dem Beginn des russischen Angriffs gab es in Städten wie Lwiw und Uschhorod Initiativen zur Umbenennung von nach Russen benannten Straßen. Laut einer Erhebung des ukrainischen Umfrageinstituts Rating Group von Anfang Mai unterstützen mehr als 65 Prozent der Ukrainer die Umbenennung von Straßen, die russische oder sowjetische Namen tragen. Zudem befürworten 71 Prozent den Abriss von Denkmälern, die eine Verbindung zu Russland darstellen. Wenn es um die Entfernung von Werken der russischen Literatur aus dem Schulprogramm geht, ist die Meinung der ukrainischen Gesellschaft trotz des Krieges differenzierter: Eine klare Unterstützung dafür äußern lediglich 35 Prozent.

Der "Bogen der Völkerfreundschaft" soll "Bogen der Freiheit" heißen

Eine gesamtstaatliche Politik wie einst bei der Entkommunisierung gibt es bei der Entrussifizierung noch nicht. Dass auch dazu landesweite Regeln festgelegt werden, ist nicht ausgeschlossen, aber dies wird wohl erst nach dem Krieg passieren. Vorerst sind die Lokalbehörden dran. Gerade die Hauptstadt Kiew geht hier recht gründlich vor. Mehr als 12.000 Vorschläge für Umbenennungen haben die Kiewer bereits eingereicht, berichtet die Stadtverwaltung. Nun wird eine Art Expertenrat gebildet, der diese sortieren soll. Über die Kiewer Stadt-App soll es später eine elektronische Abstimmung über mögliche Optionen geben, an der sich nur verifizierte Stadtbewohner werden beteiligen dürfen.

Die Diskussion über das Thema ist nicht einfach. Von den Stadtplanern in Kiew gab es Kritik an der geplanten Umbenennung von fünf U-Bahnhöfen, darunter der Bahnhof am Lew-Tolstoi-Platz, weil die Abstimmung dazu über Google Docs durchgeführt wurde. Deswegen ist es unklar, ob die Ergebnisse dieser Abstimmung berücksichtigt werden. Bereits im April wurde im Zentrum von Kiew ein Denkmal unter dem sogenannten Bogen der Völkerfreundschaft abgebaut, das 1982 als Symbol der "Wiedervereinigung" der Ukraine mit Russland errichtet worden war. Den Bogen selbst will die Stadtverwaltung stehen lassen und ihn zum "Bogen der Freiheit des ukrainischen Volkes" umbenennen - eine Idee, die in der Stadt kritisch gesehen wird, denn der Bogen wird von vielen in Kiew als Denkmal der sowjetischen Propaganda gesehen.

imago0157255226h.jpg

Ein bisschen sowjetisch sieht der "Bogen der Freiheit des ukrainischen Volkes" auch mit dem neuen Namen aus.

(Foto: IMAGO/ZUMA Wire)

Es geht um eine Art Dekolonisierung

Die Stadthistorikerin Wladyslawa Osmak von der Kiew-Mohyla-Akademie plädierte in einem Interview mit der ukrainischen Redaktion der Deutschen Welle dafür, Denkmäler von Schriftstellern wie Alexander Puschkin und Michail Bulgakow unterschiedlich zu betrachten. "Niemand wird die Puschkin-Denkmäler vermissen", sagte sie. Das Denkmal für den in Kiew geborenen Bulgakow sei jedoch Teil des öffentlichen Raums der Stadt. "Wir müssen hier eine nüchterne und ruhige Diskussion führen."

Russische Schriftsteller gehören zweifellos zum kulturellen Erbe der Welt. In der Ukraine sind Puschkin-Straßen und Tolstoi-Denkmäler jedoch vor allem Ausdruck der kulturellen Expansion Russlands in der Sowjetzeit, nicht selten unter Stalin. Zur Ukraine haben beide, Puschkin und Tolstoi, kaum einen Bezug. "Entrussifizierung ist eine konzeptuelle Bezeichnung, viel stärker geht es uns um eine Art Dekolonisierung", erläutert der Lwiwer Politologe Taras Rad, einer der Initiatoren der Straßenumbenennungen in der westukrainischen Metropole. "Viele solcher Straßennamen sind schlicht ein Verbleib aus der Sowjetzeit. Die Sowjetunion sah die russische Kultur quasi als höhere Kultur, während die Kultur anderer Völker als provinziell degradiert wurde", so Rad zu ntv.de.

"Kein Nulltoleranzprinzip"

Nötig sei eine größere Diskussion, die in Lwiw nach einigen spontanen Initiativen jetzt auch geführt werde. "Doch grundsätzlich müssen wir dieses Erbe loswerden, denn diese Straßennamen hatten einen ideologischen Charakter", ist Rad überzeugt. "Was hat denn eine Puschkin-Straße in Lwiw oder in Iwano-Frankiwsk zu suchen? Natürlich dachte Puschkin nicht, dass seine Kunst einmal als Teil der sowjetischen Expansion benutzt würde, doch so ist sie eben benutzt worden. Und wofür brauchen wir ein russisches Narrativ, wenn wir ein ukrainisches haben?" Generell äußert sich Rad ähnlich wie die Historikerin Osmak: "Wir pflegen kein Nulltoleranzprinzip gegenüber der russischen Kultur. Aber wenn es um Straßennamen geht, die rein propagandistisch entstanden sind, müssen wir etwas tun."

Trotz einer grundsätzlichen Übereinstimmung in Städten wie Kiew und Lwiw könnten die Debatten über die Entrussifizierung noch eine Weile andauern. "Wir müssen aufpassen, dass diese Diskussionen nicht zu emotional geführt werden", sagt die Musikerin Ljana Myzko, Direktorin des städtischen Kulturzentrums in Lwiw. "Es ist richtig, dass die Arbeit schon jetzt gemacht wird. Manch eine Entscheidung sollte man lieber auf die Zeit nach dem Krieg vertagen - aber nicht alle. Insgesamt ist das der Weg, den wir ohne Wenn und Aber gehen müssen."

Quelle: ntv.de

ntv.de Dienste
Software
Social Networks
Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen