Politik

Streit in Bosnien & Herzegowina Das steckt hinter Christian Schmidts Wutausbruch

"Wenn es so weitergeht wie bisher, wird die Zukunft eines Landes im Herzen Europas verspielt", sagt Schmidt.

"Wenn es so weitergeht wie bisher, wird die Zukunft eines Landes im Herzen Europas verspielt", sagt Schmidt.

(Foto: picture alliance / AA)

Nach der Frage einer Journalistin platzt Christian Schmidt der Kragen. Der Wutausbruch des CSU-Mannes, der als Hoher Repräsentant in Bosnien und Herzegowina die Umsetzung des Friedensabkommens von Dayton überwacht, sorgt international für Irritationen. Doch sein Ton dürfte bewusst gewählt sein.

In Bosnien und Herzegowina gibt es ein schönes Sprichwort: "s kim si, takav si" - mit wem du dich abgibst, so bist du auch. Offenbar hat der Hohe Repräsentant für das Land, Christian Schmidt, viel Zeit mit lokalen Politikern verbracht. "Ich hoffe, die Entscheider in der Politik wachgerüttelt zu haben", verteidigt er seinen Wutausbruch. Vor wenigen Tagen war sein emotionaler Auftritt bei einer Pressekonferenz auch über die Grenzen des Balkanlandes hinaus publik geworden. "Wenn es so weitergeht wie bisher, wird die Zukunft eines Landes im Herzen Europas verspielt", sagt er ntv.

Bosnien und Herzegowina seien "geprägt von starken nationalistischen Strömungen, die von Akteuren immer wieder gezielt genutzt werden", erklärt der ehemalige Bundeslandwirtschaftsminister. "Politikerinnen und Politiker verheddern sich hier in gegenseitigen Schuldzuweisungen, anstatt um Lösungen zu ringen."

Dem sonst ruhig und besonnen wirkenden Politiker war bei der Pressekonferenz am Mittwoch in der ostbosnischen Stadt Gorazde sichtlich der Kragen geplatzt. "Rubbish, full rubbish!" ("Müll, großer Müll"), polterte Schmidt vor laufender Kamera. "Wir sind nicht hier, um politische Spielchen zu spielen. […] Mir steht es mit diesen Behauptungen bis hierhin, die völlig falsch sind!"

Sein Ausbruch galt einer Frage der bosnischen Reporterin Adisa Imamovic vom TV-Sender N1. Sie wollte von Schmidt wissen, ob er das umstrittene Wahlrecht noch vor den Wahlen am 2. Oktober qua seiner Vollmacht als Hoher Repräsentant für Bosnien und Herzegowina (OHR) durchsetzt und weshalb er sich nur um die Belange der Kroaten kümmere.

Jahrelanger Streit um das Wahlrecht

Seit Jahren streiten die politischen Vertreter der drei konstitutiven Volksgruppen (Bosniaken, Serben und Kroaten) um eine Reform des Wahlrechts. Zuvorderst geht es dabei um das politische Gleichgewicht in der bosniakisch-kroatischen Föderation, die neben der mehrheitlich von Serben bewohnten Republika Srpska eine der beiden Entitäten des Landes bildet.

Bosnien und Herzegowina
  • Bosnien und Herzegowina ist ein demokratischer Staat mit zwei weitgehend autonomen Einheiten (Entitäten): Föderation Bosnien und Herzegowina (FBiH) und Republika Srpska (RS).
  • Beide Teile haben eine eigene Exekutive und Legislative.
  • Daneben gibt es eine gemeinsame Regierung und ein gemeinsames Parlament für den Gesamtstaat.
  • Das Staatspräsidium ist das kollektive Staatsoberhaupt. Es besteht aus jeweils einem Vertreter der bosniakischen, serbischen und kroatischen Volksgruppe. Der Vorsitz rotiert alle acht Monate.

(Quelle: Auswärtiges Amt, Wikipedia)

Zwar werden in der Verfassung des Landes, die im Friedensvertrag von Dayton 1995 verankert ist, allen drei Volksgruppen die gleichen Rechte zugestanden. Doch hat sich das Gleichgewicht in der Föderation durch Änderungen vorheriger Hoher Repräsentanten zugunsten der bevölkerungsreicheren Bosniaken verschoben.

"So haben es vorangegangene Reformen den zahlenmäßig überlegenen Bosniaken ermöglicht, ihre politischen Vertreter den Kroaten auf allen Regierungsebenen aufzuzwingen", erklärt der Historiker Domagoj Knezevic. Ein Beispiel dafür ist der umstrittene Politiker Zeljko Komsic. Der Präsident der als bürgerlich deklarierten Partei "Demokratska Fronta" wurde dreimal mit mehrheitlich bosniakischen Stimmen als kroatischer Vertreter ins dreiköpfige Staatspräsidium gewählt. Trotz zwölfjähriger Regierungszeit lehnt ihn eine deutliche Mehrheit der Kroaten als legitimen Repräsentanten weiterhin ab.

"Während die Bosniaken als größte Volksgruppe diesen politischen Vorteil nutzen und in Form eines bürgerlichen Konzepts ihre nationalen Interessen durchsetzen wollen, fordern die Kroaten als kleinste Gruppe, dass die Rechte der konstitutiven Völker garantiert werden und die euro-atlantische Integration vorangetrieben wird", erklärt der Professor am Kroatischen Institut für Geschichte.

Christian Schmidt kämpft gegen "politische Kriminelle"

Schmidt hatte die Entscheidungsträger in seiner Funktion als Hoher Repräsentant, der die Umsetzung des Friedensabkommens von Dayton für die Internationale Gemeinschaft überwacht, mehrmals zur bilateralen Einigung aufgerufen. Ein ernsthafter Versuch scheiterte im vergangenen Januar in der Küstenstadt Neum: Vertreter der EU und der USA hatten die beiden Seiten zu Gesprächen eingeladen. Die Bosniaken unter Führung der größten Partei SDA lehnten alle Reformvorschläge der kroatischen Parteien, die sich zu einer Koalition zusammengeschlossen hatten, ab. Das hat das gegenseitige Misstrauen vertieft und die Fronten verhärtet.

"Jede Veränderung bedeutet für die bosnischen Politiker aller Farben einen Machtverlust", erklärt der SPD-Bundestagsabgeordnete und Westbalkan-Experte Josip Juratovic. "Über Bosnien und Herzegowina herrschen politische Kriminelle, die beinahe alle Parteien und große Teile der Medien beherrschen - und Christian Schmidt droht sie zu Fall zu bringen."

Aufruf zu Protesten und Gewalt

Es war Ende Juli, als plötzlich ein angeblicher Entwurf Schmidts zur Reform des Wahlrechts für die Abstimmung über die Parlamentszusammensetzung im Oktober durchsickerte. Er sah vor, durch eine prozentuale Hürde in den zehn Kantonen der Föderation die Wahl legitimer Vertreter der Volksgruppen zu ermöglichen.

Der Bericht löste einen Sturm der Entrüstung aus: Bosniakische Nationalisten und bürgerliche Parteien riefen zu Protesten, teils auch zu Gewalt auf. Sie befürchteten, Schmidt könnte die Reform des Wahlrechts per Dekret erzwingen, wozu er qua Amt die Vollmacht hätte. Mehrere Tausend Menschen versammelten sich am 25. Juli vor seinem Dienstsitz in Sarajevo.

Zwei Tage später verkündete Schmidt eine Änderung des Wahlrechts, diese war aber nur technischer Natur. Den politischen Vertretern setzte er eine sechswöchige Frist, das Wahlrecht zu reformieren.

"Ich bin davon überzeugt, dass Schmidt nicht so leicht aufgeben wird, denn schließlich hat er die große Mehrheit der Bevölkerung hinter sich", sagt der SPD-Politiker Juratovic. "Da dürfen wir uns nicht von den politisch organisierten Kundgebungen täuschen lassen, das weiß er ganz genau."

Viele Kräfte zerren an Christian Schmidt

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"Die Frustration ist auf allen Seiten hoch", erklärt Peter Beyer, Berichterstatter der Union für den Westbalkan. Er kann den Unmut Schmidts sehr gut nachvollziehen. Er arbeite in einem Land, "wo Einzelinteressen politischer Spitzenakteure über die des Landes gestellt werden, politische Blockade zum Alltag gehört und gewählte Politiker ihren Job nicht machen".

Beyer begrüßt deshalb die "undiplomatische Ausdrucksweise" und wertet Schmidts "Wachrütteln" als richtig. "Die Vergangenheit lehrt uns, dass man mit diplomatischer Sprache, vor allem im Westbalkan, nicht immer weiterkommt", erklärt der CDU-Politiker. Innerhalb der Union habe es sehr viel Zuspruch für seinen Auftritt gegeben, weil der "Blick wieder auf Bosnien und Herzegowina gerichtet wird".

(Dieser Artikel wurde am Sonntag, 21. August 2022 erstmals veröffentlicht.)

Quelle: ntv.de

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