Rekrutierungen von Ausländern Russland zwingt Migranten und Studenten an die Front
25.06.2024, 19:32 Uhr Artikel anhören
Mit dem geformten "Z" versucht Russland für den Kriegseinsatz zu werben, hier an einem mobilen Rekrutierungszentrum in Rostow am Don.
(Foto: REUTERS)
Russland hat bei seiner Invasion der Ukraine schätzungsweise Hunderttausende Soldaten verloren. Um sie zu ersetzen, geht das Land bei der Rekrutierung verschiedene Wege: Der Kreml zwingt längst auch Migranten und ausländische Studenten an die Front. Falls sie sich weigern, droht die Abschiebung.
Im Herbst vergangenen Jahres reist Adil nach Moskau. Der junge Somalier lässt seine Familie in der bitterarmen Heimat zurück - mit der Hoffnung, in Russland viel Geld zu verdienen. Zunächst arbeitet Adil für wenig Geld als Wachmann, behauptet er. Dann wird der junge Mann aus Somalia auf ein Werbeplakat des russischen Militärs aufmerksam. Darauf zu sehen ein Angebot, das er nicht ablehnen kann: Für umgerechnet fast 1900 Euro im Monat geht Adil zum Militär - inklusive der Aussicht auf die russische Staatsbürgerschaft und dem Versprechen, nicht an vorderster Front kämpfen zu müssen, wie Adil im ntv-Interview erzählt.
Doch der Traum entpuppt sich als Albtraum. Adil wird direkt in die Ukraine an die Front geschickt. Doch statt zu kämpfen, läuft er bereits nach vier Tagen über. "Ich bin nicht gekommen, um zu töten. Ich habe meine Waffe verloren. Ich wusste gar nicht, wie ich sie halten sollte", behauptet er im Interview. "Überall waren Drohnen, Artillerie, Raketen. Ich bin nur gerannt. Ich dachte, 2000 Dollar wären das Durchschnittsgehalt für normale Arbeit. Ich dachte, dass ein großer Traum für mich begonnen hat."
So wie dem jungen Somalier, ergeht es derzeit vielen, meist jungen Männern aus afrikanischen Ländern wie Burundi, dem Kongo, Ruanda oder Uganda, aber auch Sierra Leone oder Somalia: Mittelsmänner versprechen ihnen gut bezahlte Jobs in Russland; russische Söldnertruppen bieten ihnen einen Platz in den hinteren Reihen an. Doch die Realität sieht meistens so aus wie bei Adil: kein Job, weniger oder gar kein Geld, keine hintere Reihe, sondern Speerspitze des russischen Fleischwolfs.
Putin rekrutiert verstärkt im Ausland
Der britische Geheimdienst schätzt, dass Russland bei seiner Invasion in der Ukraine bereits bis zu einer halben Million Soldaten verloren hat. Sie sind entweder tot oder schwer verletzt. Die unabhängigen russischen Rechercheportale Meduza und Mediazona erachten diese Zahlen für überzogen, gehen aber dennoch von etwa 100.000 russischen Gefallenen aus. Um sie zu ersetzen, geht der Kreml bei der Rekrutierung neue Wege: Auf der Suche nach neuen Soldaten sollen bereits Tausende Migranten und ausländische Studenten gezwungen worden sein, an die Front zu gehen. Das berichtet das Finanz- und Wirtschaftsportal Bloomberg.
Anfang dieses Jahres hat Russlands Präsident Wladimir Putin zum dritten Mal per Dekret die Rahmenbedingungen für die Rekrutierung von Ausländern gelockert. Neue Rekruten müssen zum Beispiel keinen festen Wohnsitz haben, um dem Militär beizutreten. Gleichzeitig wurden die Anreize für eine Rekrutierung erweitert. Russland lockt Ausländer mit vergleichsweise hohen Gehältern, der Aussicht auf angeblich umfassende Sozialleistungen und die Staatsbürgerschaft für sich und ihre Familienmitglieder.
Rekrutierungen nach dem Wagner-Prinzip
Derzeit halten sich 35.000 bis 37.000 afrikanische Studenten in Russland auf, teilt die Organisation Rossotrudnitschestwo mit, die sich für russische Interessen in Afrika einsetzt. Jedes Jahr würden etwa 6500 Studenten aus Afrika neu in Russland aufgenommen, um dort kostenlos zu studieren, sagte der Leiter der Organisation, Jewgeni Primakow.
Statt in der Bibliothek oder in Hörsälen finden sich aber immer mehr von ihnen in Rekrutierungsbüros wieder. Dort ist die Botschaft unmissverständlich: Wenn sie den Kriegsdienst in der Ukraine verweigern, werden ihre Visa aufgekündigt oder nicht verlängert. Vereinzelt soll Russland junge Afrikaner auch schon inhaftiert und vor die Wahl gestellt haben: Abschiebung oder Militärdienst. "Es ist natürlich schwierig, sich diesen Drohungen zu widersetzen", kommentiert Reporter Alberto Nardelli im Youtube-Kanal von Bloomberg.
Das Gebaren habe mit den Methoden der Söldnergruppe Wagner begonnen. "Während der Schlacht um Bachmut begann Wagner, im Gefängnis Gefangene zu rekrutieren. Unter diesen Gefangenen waren auch Ausländer. Jetzt, wo die Verluste Russlands zunehmen, weitet Russland diese Taktik aus", berichtet Nardelli.
Darüber hinaus durchforsten die Rekrutierungsbüros Datenbanken nach Personen, die sich in der Vergangenheit um Arbeit in Russland beworben haben. "Sie werden mit dem Versprechen auf einen Arbeitsplatz nach Russland gelockt und dann gezwungen, dem Militär beizutreten", so Nardelli.
Meist bleibt nur ein Ausweg: Mit Glück können sie die korrupten russischen Beamten bestechen, um der Front zu entgehen.
Kanonenfutter für die Front
Seit 2023 gebe es einen signifikanten Anstieg von gefangenen Ausländern an der Front, heißt es. Laut dem ukrainischen Geheimdienst hat Russland zudem inzwischen in bereits mindestens 21 Ländern versucht, neue Söldner für den Krieg anzuwerben, darunter in mehrere afrikanischen Staaten.
Der Kreml lockt sie mit dem Versprechen auf vergleichsweise viel Geld und lukrative Prämien. Bei ihrer Ankunft bei der Armee werden sie dann jedoch mit der brutalen Realität konfrontiert - und an der Front als Kanonenfutter eingesetzt, sagt Petro Jazenko von der ukrainischen Koordinierungsstelle für russische Kriegsgefangene. "Im Allgemeinen sind es arme Leute, die für Geld kämpfen. Sie sind Söldner. Und natürlich gibt es keinen Unterschied, ob sie Erfahrung haben, ob sie Spezialist sind, hoch qualifiziert oder nicht. Sie überleben an der Front nur kurze Zeit, wegen des schweren Beschusses und der Drohnen."
Rekrutierungen in Asien und Kuba
Auch in asiatischen Ländern hat Russland Menschen für den Krieg rekrutiert. Die Regierung von Nepal teilte Anfang des Jahres mit, dass etwa 400 junge nepalesische Männer vom Kreml an die Front entsendet wurden. Die Dunkelziffer dürfte noch viel höher liegen. CNN hatte im Februar von bis zu 15.000 Nepalesen berichtet, die in der Ukraine im Krieg eingesetzt werden. Die Entscheidung Indiens, keine Nepalesen für die indische Armee mehr einzuziehen, "könnte Nepalesen dazu ermutigt haben, in Russland und anderswo nach Arbeit zu suchen", analysiert Bloomberg. Auch in Sri Lanka waren die russischen Anwerber offenbar erfolgreich. Die Regierung des Inselstaats fordert 800 Staatsbürger zurück, die mit falschen Versprechungen in den Krieg geschickt worden seien.
Die russische Rekrutierungs-Offensive ist indes auch auf Kuba ins Rollen bekommen. "Der Strom von Söldnern aus Kuba reißt nicht ab, da sich die russischen Anwerber dort frei fühlen", wird Jazenko vom ukrainischen Portal Kyiv Independent zitiert. Im sozialistischen Karibikstaat sind ein Jahr Militärdienst mit der Perspektive auf die russische Staatsbürgerschaft eine willkommene Gelegenheit, um der Armut zu entgehen. Erfolgreich rekrutiert Russland unter anderem auch in Serbien, das weiter keine Sanktionen gegen Russland verhängt hat.
Der Bedarf der russischen Armee an neuen Soldaten ist hoch: Im Mai hat Russland nach Angaben des britischen Verteidigungsministeriums etwa 1200 Menschen pro Tag verloren. "Russland muss deshalb Menschen finden, wo immer es kann. Wladimir Putin will eine vollständige Mobilisierung vermeiden. Deshalb versucht Russland alles, um Menschen 'freiwillig' dazu zu bringen, an die Front zu gehen."
Was mit Adil und den anderen ausländischen Söldnern in der Ukraine passiert, ist unklar. Kiew kosten die Überläufer nur Geld. Die Heimatländer wollen sie auch nicht zurück. Und der Traum vom gut bezahlten Job in Moskau ist längst ausgeträumt. Russland ist an einem Austausch von Gefangenen meist gar nicht interessiert.
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Quelle: ntv.de