Politik

Frage und Antwort Sieht Selenskyj einen Weg für Krim-Verhandlungen?

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In einem Interview sorgt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj mit einer Aussage über die Krim für Aufsehen - und stiftet gleichzeitig Verwirrung. Dort sagte er im Gespräch mit der ukrainischen Star-Moderatorin Natalija Mossejtschuk am Samstag: "Wenn wir uns an der administrativen Grenze zur Krim befinden, glaube ich, dass es möglich sein wird, die Entmilitarisierung Russlands auf der Halbinsel politisch voranzutreiben". Der Grund: Er wolle Opfer vermeiden und deswegen eine Lösung finden, die nicht Kämpfe auf der Krim beinhaltet. Wie das aussehen könnte und was Selenskyj mit seiner Aussage meint, beantwortet ntv.de.

Deutet Selenskyj damit eine mögliche Verhandlungslösung für die seit 2014 besetzte Krim an?

Auf eine gewisse Art und Weise schon, aber nicht so, wie viele Menschen sich diese vorstellen dürften. Im Idealfall würde die ukrainische Armee gerne auf eine womöglich sehr blutige Landoperation auf der Krim verzichten. Zumal sich die Kämpfe in den Krim-Bergen, die sich auch für Partisanen gut eignen, als sehr schwierig erweisen könnten - die engen Straßen im Gebirge bieten viele Möglichkeiten für die Partisanen, sich zu verstecken. Teilweise wäre auch mit lokalem Widerstand zu rechnen. Stattdessen würde Kiew auf eine Blockade der Halbinsel setzen. Sollte die Ukraine die administrative Grenze zur Krim erreichen und die Kertsch-Brücke zerstören, würden die russischen Truppen auf der Halbinsel in große logistische Schwierigkeiten geraten. Die Versorgung wäre nur über Fähren und Schiffe möglich, die ebenfalls unter ständigem ukrainischem Feuer stehen würden, zumal die Ukraine über ein modernes Arsenal an Seedrohnen verfügt. In Kiew geht man davon aus, dass dies der einzige Weg ist, um Russland ernsthaft an den Verhandlungstisch zu bringen.

Wie könnten diese Verhandlungen denn aussehen?

Das steht aktuell in den Sternen. Konkretes kann sich eigentlich erst dann abzeichnen, wenn die Ukrainer tatsächlich an der Grenze zur Krim stehen und mit der Blockade beginnen. Vieles hängt natürlich auch vom Erfolg der laufenden Gegenoffensive ab. Klar ist aber, was die grundsätzlichen Prioritäten der ukrainischen Seite sind. Die Krim ohne russische Soldaten ist neben der Durchbrechung der sogenannten Landbrücke zur Halbinsel vielleicht sogar das Kiewer Sicherheitsinteresse Nummer eins überhaupt in diesem Krieg. Dies hätte sowohl militärisch als auch wirtschaftlich enorme Bedeutung. Wie genau die Krim dann verwaltet wird, ob es Szenarien geben könnte, bei denen die Halbinsel etwa nach fünf, sieben oder zehn Jahren der UN-Aufsicht an die Ukraine übergeben wird oder Ähnliches - all das sind mögliche Zwischenlösungen, die nicht undenkbar wären, sich aktuell aber nicht näher definieren lassen. Der Verzicht der Ukraine auf die Krim ist allerdings ausgeschlossen.

Warum ist die Krim für die Ukraine so unverzichtbar?

Die Krim ist alles andere als "nur" der Hauptstützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte. Die gesamte Halbinsel ist ein riesiger Militärstützpunkt mit mehr als 230 Objekten, die quer durch die Krim verteilt sind und militärisch benutzt werden können - es geht um ein beeindruckendes Netz von Militärflugplätzen, Dutzende von Munitionsdepots und vieles mehr. Seit der völkerrechtswidrigen Annexion wurde die Halbinsel gezielt noch stärker militarisiert. Die Zahl der stets stationierten Soldaten wurde verdreifacht, die Infrastruktur wurde modernisiert. Schließlich wurde die Halbinsel am 24. Februar 2022 als Aufmarschgebiet in die Südukraine benutzt.

Dies hatte riesige Folgen für den Kriegsverlauf. Wären die Russen von der Krim aus nicht einmarschiert, wäre wohl etwa Mariupol, die wichtigste russische Eroberung in diesem Krieg, gar nicht erst gefallen. Bei den ukrainisch kontrollierten Vorstädten von Donezk, vor allem um die Städte Awdijiwka und Marjinka, wo die ukrainische Verteidigung ähnlich wie um Mariupol gut aufgebaut wurde, haben die Russen seit Kriegsausbruch nur minimale Fortschritte gemacht. Der Einmarsch von der Krim aus erlaubte es den Russen aber, Mariupol, die drittgrößte Donbass-Stadt, zu umzingeln. Daher ist es eine wichtige Sicherheitspriorität für die Ukraine, dass von der Krim aus niemals mehr ein russischer Angriff erfolgt.

Wirtschaftlich gesehen hat bereits die Annexion von 2014 einen negativen Effekt auf die ukrainischen Häfen im Asowschen Meer, nämlich auf Berdjansk und Mariupol, die neben Odessa zu den wichtigsten Häfen des Landes gehören. Russland hat ständig Schiffe im Asowschen Meer aufgehalten und den kommerziellen Verkehr gestört. Nun wird vorerst das gesamte Asowsche Meer von Moskau kontrolliert. Von der Krim aus steht aber auch der nördliche Teil des Schwarzen Meeres quasi unter Russlands Kontrolle, wodurch der Kreml Getreideexporte aus Odessa stören kann.

Bedeutet das, dass die Krim strategisch wichtiger als der russisch-kontrollierte Teil des Donbass ist?

Zynisch formuliert: Ja. Aus wirtschaftlicher Sicht war die Industrie im Donbass sowieso stark veraltet und für die Zukunft kaum konkurrenzfähig. Nun wurde sie größtenteils durch den Krieg zerstört - und es lohnt sich nicht, diese wiederaufzubauen. Militärisch gesehen bieten die russischen Grenzregionen zu Donbass nicht das Ausmaß an Infrastruktur an, die die Halbinsel trotz ihrer logistischen Schwachstellen vorzuweisen hat, die eigentlich schon seit der ursprünglichen Annexion durch das Russische Reich am Ende des 18. Jahrhunderts gezielt zu einem Militärstützpunkt aufgebaut wurde.

Wenn die Ukrainer schon an der Grenze zur Krim stehen und die Krim-Blockade ein so großes logistisches Problem für die Russen ist, warum sollte dann überhaupt verhandelt werden?

Die Krim hat zwar ihren festen Platz im russischen Geschichtsmythos, aber die russische Erzählung - etwa von der Heldenstadt Sewastopol - hat oft kaum etwas mit realen historischen Tatsachen zu tun. Das ist aber Nebensache. Wichtiger ist, dass deren Annexion schlicht die größte Errungenschaft der gesamten Amtszeit des russischen Präsidenten Wladimir Putins ist. Die kampflose Aufgabe der Krim ist daher selbst dann unwahrscheinlich, wenn die logistische Ausgangslage für die Russen komplett aussichtslos ist. Außerdem ist die Krim der wohl einzige Streitpunkt in diesem Krieg, bei dem der Einsatz von taktischen Atomwaffen nicht ganz ausgeschlossen ist, auch wenn dessen Wahrscheinlichkeit recht gering ist. Aber es gibt auch durchaus Stimmen, die als einzigen Verhandlungspunkt mit den Russen ein Ultimatum sehen, die Krim innerhalb von 48 oder 72 Stunden vor Beginn der Blockade zu verlassen. Generell existiert aber in Kiew das Verständnis, dass man vorsichtig agieren sollte.

Sind Selenskyjs Aussagen im Interview mit Mossejtschuk neu?

Nicht im Kern. Vorab: Für die Ukraine ist die öffentliche Erzählung von der Wiederherstellung der vollen Grenzen von 1991 deswegen wichtig, weil es dafür keine ernsthafte kommunikative Alternative gibt. Die Gesellschaft braucht eine Orientierung, ein Ziel, um sich in diesem langen Abwehrkrieg mobilisieren zu können. Das Problem ist dabei, dass weder Selenskyj noch Putin, weder Biden noch Scholz wissen, wie dieser Krieg wirklich zu Ende geht. Selbst ukrainische Truppen in Sewastopol bedeuten nicht zwingend, dass es am Tag danach gleich Frieden gibt und dass der Krieg sofort endet. Es gibt unzählige Varianten des Kriegsendes, bei denen niemand auf der Welt weiß, welche davon eintritt. Und die Grenzen von 1991 sind das einzige nachvollziehbare Ziel, das eine faktische Grundlage - die ukrainische Verfassung - hat, und welches die Gesellschaft auch versteht, ohne Weiteres zusätzlich erklären zu müssen.

Aber es ist tatsächlich kein besonderes Geheimnis, dass der Frontalangriff bei der Krim-Befreiung eher unerwünscht ist. Die "Washington Post" hat etwa vom Juni-Besuch des CIA-Direktors William Burns in Kiew berichtet. In dem Artikel ging es darum, dass die Verlegung der Artillerie- und Raketensysteme an die Grenze zur Krim den Weg zu Verhandlungen öffnen könnte. Russland würde nur dann verhandeln, wenn es eine Gefahr für die Krim spürt, wurde damals ein hochrangiger ukrainischer Beamter zitiert. Diese Sichtweise wurde zwar aus Kiew dementiert, doch schon damals hat sich Selenskyj gegenüber dem Sender ABC News auf eine ähnliche Art geäußert: "Höchstwahrscheinlich wird Putin dazu gezwungen, den Dialog mit der zivilisierten Welt zu suchen, sollte die Ukraine die administrative Grenze zur Krim erreichen."

Quelle: ntv.de

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