"Krankenwagen der Gesellschaft" Steinbrück frotzelt gegen SPD
11.03.2015, 06:38 Uhr
Geht mit seinem neuen Buch "Vertagte Zukunft" auf Lesereise: der frühere SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück.
(Foto: REUTERS)
Peer Steinbrück meldet sich zurück. In einem Buch schreibt der Ex-Kanzlerkandidat über seine Kandidatur. Bei der Vorstellung gibt sich Steinbrück gewohnt schnoddrig - vor allem gegenüber seiner Partei.
Die ehrlichste Antwort gibt Peer Steinbrück, als der Abend fast schon vorbei ist. Ob er angesichts der vielen Krisen auf der Welt froh sei, nicht Bundeskanzler geworden zu sein, fragt eine Zuschauerin. Steinbrück muss lachen. "Da meine Frau in der ersten Reihe sitzt, kann ich nicht schwindeln", sagt er, und dann: "Ja." Ein bemerkenswertes Geständnis des Mannes, der sich vor zweieinhalb Jahren aufmachte, Angela Merkel aus dem Kanzleramt zu verdrängen - und im Oktober 2013 krachend scheiterte. Mit etwas Abstand blickt Steinbrück nun auf diese Zeit zurück. Der 68-Jährige hat ein Buch geschrieben, das er an diesem Abend im Theater "Berliner Ensemble" mit dem Journalisten Ulrich Wickert vorstellt und das den Titel "Vertagte Zukunft: Die selbstzufriedene Republik" trägt. Erstaunlich ehrlich seziert er darin auch die Pannen seines Wahlkampfes. Dabei spart er nicht mit Kritik, an sich selbst und an der SPD.
Als Wickert ihn auf seine chaotische Kür zum Kanzlerkandidaten im September 2012 anspricht, sagt Steinbrück grinsend: "Das war sozialdemokratische Strategie." Über das Wahlprogramm sagt er: "Ich habe es komplett gelesen, im Gegensatz zu manchem Delegierten." Allmachtsansprüche bescheinigt er seiner Partei, weil sie versucht habe, alle glücklich zu machen. Inhaltlich habe ihm seine Partei zu viel abverlangt. "Steinbrück war irgendwann nicht mehr Steinbrück", schreibt er im Buch. Bei der Vorstellung des 250-Seiten-Werks stellt er fest: Die Union sei im Vorteil, weil sie keine Programmpartei sei. "Sie hat erkennbar nicht immer schlechte Laune, die SPD dagegen ist zu oft schlechter Laune."
"Der provozierende Typ war nicht gefragt"
Die Zuhörer lachen über solche Sprüche. Die Anziehungskraft, die Steinbrück im Wahlkampf abhandengekommen schien, ist ungebrochen. Einige seiner Lesungen sind schon ausverkauft. Steinbrück unterhält - auch wegen seiner Angriffslust. Das zeigt sich auch an diesem Abend wieder. Steinbrück spricht wie schon in seinem vorherigen Buch mit einer Distanz über die SPD, die manchem Sozialdemokraten nicht schmecken dürfte. Er fordert, die Partei müsse ihre Personalrekrutierung verändern. "Mehr Eigenschaften, die dem Wähler imponieren, statt solcher, die in der Parteiorganisationen ankommen." Den deutlichsten Vorwurf richtet er an Parteichef Sigmar Gabriel. Die SPD habe die Wahlniederlage bis heute nicht aufgearbeitet. Die Partei dürfe nicht nur "Krankenwagen der Gesellschaft sein". Sie brauche dringend einen neuen "Spirit", um die 30-Prozent-Marke wieder zu erreichen.
Steinbrück war schneller: Dem Wahlkampf widmet er das erste Drittel seines Buches, damit legt er die Analyse der Niederlage als Erster vor. Nicht fehlen dürfen natürlich die Slogans, die seine Kandidatur prägten: die von ihm geforderte "Beinfreiheit" und "Hätte, hätte, Fahrradkette". Über den Mittelfinger und seine Tränen mag er jedoch nicht schreiben. Schonungslos ist Steinbrücks Buch dennoch, auch gegenüber sich selbst. Er sei geblendet gewesen vom Zuspruch, gibt er zu. Und: Er hätte früher merken müssen, dass ihm seine flapsige Art zum Verhängnis werden könnte. "Der provozierende Typ war nicht gefragt", sagt er. Von seinen persönlichen Fehlern sei der Wahlkampf zusätzlich belastet worden, der aus seiner Sicht schon im Frühjahr 2013 nicht mehr zu gewinnen war. Steinbrück gesteht: Selbst 20 Jahre Erfahrung hätten nicht ausgereicht, "um sich die Härten eines solchen Zweikampfs vorzustellen" - trotz aller Blutgrätschen, Pfeifkonzerte und Eigentore.
"Ich komme gerade richtig in Rage"
Im Berliner Ensemble behauptet Steinbrück zwar, er habe ein "dickes Fell". Doch auch nach eineinhalb Jahren kann er kaum verbergen: Die Niederlage sitzt tief, völlig überwunden ist sie nicht. Ein eigenes Kapitel widmet Steinbrück den Medien. Mitunter könne diese vierte Gewalt "ganz schön gewalttätig" sein, stellt er fest. Die Medien ließen keine Kritik zu, "aber wir müssen devot den Hals hinhalten. Ich komme gerade richtig in Rage. Ich mache jetzt mal lieber Schluss", sagt er in dieser Steinbrückschen Schnoddrigkeit, die mal gespielt und dann wieder bierernst ist.
Der Großen Koalition bescheinigt Steinbrück weitgehend gute Arbeit. Nur einmal kritisiert er Merkel und ihr "Regieren mit Hilfe demoskopischer Erhebungen". Steinbrück spricht jetzt von Helmut Schmidt und dem Nato-Doppelbeschluss, Helmut Kohl und der Wiedervereinigung und Gerhard Schröder und den Hartz-Reformen. "Viele Kanzler sind für große Sachen eingetreten, mit der Gefahr, zu scheitern. Teilweise sind sie daran gescheitert", sagt er und fragt: "Nur: Was ist das große Projekt dieser Kanzlerin?"
Als Wickert schließlich zur Diskussion bittet, spielen die Kanzlerkandidatur und jene mageren 25,7 Prozent am Wahlabend im September 2013 keine Rolle mehr. Kurz spricht Steinbrück über sein Engagement in der Ukraine. Dann kommt das Thema Parteienfinanzierung auf. Steinbrück verteidigt sie, er schwärmt von der Arbeit von politischen Stiftungen, von deren Stipendien. Davon gebe zu wenig in Deutschland. Wickert widerspricht. Steinbrück ist erbost. "Dann müssen wir da etwas streitig auseinandergehen, Herr Wickert", sagt er. Diesmal ist die Schnoddrigkeit wieder gespielt.
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Quelle: ntv.de