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Moskaus Front wankt Warum Kiews Charkiw-Offensive Erfolge feiert

Ukrainische Einheiten in der Region Charkiw.

Ukrainische Einheiten in der Region Charkiw.

(Foto: IMAGO/ZUMA Wire)

Nach Monaten in der Defensive gehen Kiews Truppen in der Region Charkiw zur Gegenoffensive über. Innerhalb kürzester Zeit befreien die Verbände mehrere strategisch wichtige Ortschaften. Experten nennen für die Erfolge mehrere Faktoren.

Die ukrainische Gegenoffensive in der Region Charkiw scheint die russischen Besatzer völlig überrumpelt zu haben. Nach Monaten des Stellungskrieges und der Artilleriegefechte gelingt es Kiews Verbänden in kürzester Zeit, strategisch wichtige Ortschaften wie Kupjansk und Isjum zu befreien. Innerhalb der vergangenen fünf Tage haben ukrainische Truppen nach Angaben des US-Militärinstituts ISW mehr Gelände zurückgewonnen als Moskaus Streitkräfte seit April besetzt haben. Selbst der Kreml kann die Niederlagen nicht mehr verbergen und meldet Rückzüge der eigenen Truppen. Experten nennen für die handstreichartigen Erfolge der ukrainischen Armee mehrere Gründe. Gleichzeitig warnen sie vor russischen Gegenmaßnahmen.

"Die Russen wurden durch das regelmäßige Gerede der Ukraine über die bevorstehende Cherson-Offensive im Süden dazu verleitet, Truppen abzuziehen", bilanziert der emeritierte Hochschulprofessor für Kriegsstudien am Londoner Kings College, Lawrence Freedman, in einem Blogeintrag. Dadurch sei die russische Frontlinie in der Region Charkiw ausgedünnt worden. Ähnlich äußert sich auch Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations. "Die große Ablenkung durch eine angebliche Offensive im südlichen Cherson ist der Ukraine geglückt", meint der Militärexperte im Gespräch mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.

Mehrfachraketenwerfer als Schlüssel zum Erfolg

Doch nicht nur die Truppenverlegungen scheinen Russlands Streitkräfte in der Region geschwächt zu haben. Auch die hohen Verluste spielen laut Freedman eine Rolle und verhindern momentan eine effektive Verteidigung. Diese Meinung teilt auch Rob Lee, Militäranalyst am Foreign Policy Research Institute. "Russlands Gewinne im Donbass waren wahrscheinlich ein Pyrrhussieg, weil es schwere Verluste hinnehmen musste, die es sich nicht leisten konnte", schreibt Lee auf Twitter. Kiew hingegen scheint bei seinen Gegenangriffen nun auf Eliteverbände zu bauen. "Die Ukraine setzt die Kronjuwelen der ukrainischen Armee in Charkiw ein, vor allem die Luftsturm- und Luftlandebrigaden", so Gressel.

Jack Watling, wissenschaftlicher Mitarbeiter am britischen Royal United Services Institute, sieht insbesondere die westlichen Waffenlieferungen als entscheidenden Schlüssel für den Erfolg. Die Bereitstellung von Mehrfachraketenwerfern habe es der Ukraine im Vorfeld der Gegenoffensive ermöglicht, systematisch russische Depots und Kommandoposten zu zerstören. Dank der Ausstattung ukrainischer Kampfjets mit Anti-Radar-Raketen sowie die Bereitstellung moderner Artilleriesysteme habe die Ukraine zudem Russlands Aufklärungsfähigkeiten behindert, schreibt Watling in einem Gastbeitrag für den "Guardian".

"Der Krieg ist noch nicht vorbei"

Wie es mit der Gegenoffensive weitergeht, dürfte sich in den kommenden Tagen zeigen. Der US-Militäranalyst Patrick Fox sieht bereits die Voraussetzungen für einen großen ukrainischen Sieg gegeben. "Die aktuelle Operation hat das Potenzial, zu einem Wettlauf zu führen, den die Alliierten 1944 erlebten, als sich die Wehrmacht aus Frankreich zurückzog", schreibt Fox auf Twitter. Die ukrainische Armee "muss jetzt ihren Erfolg ausnutzen und der russischen Armee maximalen Schaden zufügen, während sie sicherstellen muss, dass sie ihre eigenen Linien nicht überdehnt und sich selbst anfällig für Gegenangriffe macht."

Watling zufolge bieten sich dem Kreml nun zwei Möglichkeiten. Das russische Oberkommando könnte mit Gegenangriffen versuchen, das verloren gegangene Territorium zurückzuerobern. Laut dem Experten verfügt Russland noch über frisch mobilisierte Einheiten, die gerade trainiert und für den Krieg im Donbass ausgerüstet werden. Mit einem verfrühten Einsatz dieser Verbände würde Moskau allerdings hohe Verluste riskieren. Alternativ könnte Moskau auch Truppen von anderen Frontabschnitten in die Region verlegen, um die Verteidigung zur stärken. Eine Umgruppierung würde aber möglicherweise neue Lücken in die Frontlinie reißen, die die Ukraine dann ausnutzen könnte.

Bis neue russischen Verbände im Nordosten angekommen sind, dürfte es noch einige Tage dauern, meint Gressel. Bis dahin versuche Moskau, mit Luftattacken die ukrainischen Angriffsspitzen zu stoppen. Inwieweit die Luftangriffe die Gegenoffensive verlangsamen, lasse sich noch nicht abschätzen. "Im Raum Charkiw setzt die Ukraine aber auf den Gepard-Panzer aus Deutschland, um seine Panzerspitzen vor Angriffen aus der Luft zu schützen."

Für den australischen General a.D., Mick Ryan, sind die russischen Streitkräfte nach den jüngsten Niederlagen nicht geschlagen, aber in ernsthaften Schwierigkeiten. Die Ukraine habe jetzt die Initiative, schreibt Ryan auf Twitter. "Der Krieg ist noch nicht vorbei, aber vielleicht wendet sich das Blatt endlich."

(Dieser Artikel wurde am Sonntag, 11. September 2022 erstmals veröffentlicht.)

Quelle: ntv.de

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