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Das wird keine Routinewahl Warum die Europawahlen 2024 anders sind

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Gewählt wird auch am geografischen Rande Europas: Hier bringen ein Polizist und die örtliche Wahlverantwortliche eine Wahlurne ins Wahllokal auf der irischen Insel Inishbofin (Bild von 2019). In Irland findet die Wahl bereits am Freitag statt.

Gewählt wird auch am geografischen Rande Europas: Hier bringen ein Polizist und die örtliche Wahlverantwortliche eine Wahlurne ins Wahllokal auf der irischen Insel Inishbofin (Bild von 2019). In Irland findet die Wahl bereits am Freitag statt.

(Foto: picture alliance/dpa/PA Wire)

Die zehnte Europawahl seit 1979 steht bevor. Wird sie eine Routineveranstaltung mit vorwiegend nationalen Themen und Politikern? Vermutlich nicht. Denn einiges spricht dafür, dass das Jahr 2024 einen Wendepunkt markiert.

Bereits zum zehnten Mal finden in einer Woche, in Deutschland am 9. Juni, Wahlen zum Europäischen Parlament statt. Man sollte meinen, alles sei wie immer. Doch diese Wahlen werden anders sein. Dafür gibt es vier Gründe.

Erstens könnten rechtsradikale Parteien bei diesen Wahlen erstmals die 20-Prozent-Marke überspringen. Sie werden zwar die starke Mehrheit der europafreundlichen Parteien nicht beseitigen können, aber sie könnten entweder erheblich mehr Einfluss bekommen oder den Entscheidungsprozess im Parlament mehr stören. Dieser Zuwachs der Rechtsextremen im Europäischen Parlament gewinnt auch dadurch an Bedeutung, dass sich der Europäische Rat verändert hat: In den letzten zwei Jahren stieg die Zahl der Regierungen, die entweder unter der Führung oder unter der Beteiligung von Rechtsextremen stehen, sprungartig an. Heute sind es schon sieben Regierungen, demnächst könnten es je nach dem Ausgang der Wahlen in Belgien und Österreich sogar neun sein. Damit verändern sich nicht nur die Mehrheiten im Europäischen Rat. Auch das Gewicht der Rechtsextremen im Europäische Parlament verschiebt sich dadurch.

In einem erstaunlichen Kontrast dazu ist, zweitens, neu an dieser Wahl, dass die Bürger schon lange nicht mehr so viel Vertrauen in die Europäische Union besaßen wie in diesem Wahljahr. Die große Mehrheit der Bürger sah im Frühjahr 2024 die Europäischen Union als eine gute Sache für ihr Land an, dagegen nur jeder Achte als eine schlechte Sache. Die Mehrheit der Bürger setzt in die Europäische Union sogar mehr Vertrauen als in die jeweils eigene Regierung. Auf ein solches Polster an Vertrauen konnte sich die Europäische Union zum letzten Mal bei den Wahlen 2004, also vor der Zeit der vielen Krisen, stützen. Dieser scharfe Kontrast zwischen einem Zuwachs an rechtsextremen Wählern und einer hohen Zustimmung der Bürger zur Europäischen Union prägt diese Wahlen. Die Wähler sind mehr als früher geteilt in eine große proeuropäische Mehrheit und eine europaskeptische Minderheit.

Drittens ist diese Europawahl neuartig, weil sich die Politikfelder der Europäischen Union in den vergangenen Jahren stark verändert haben. Bei den letzten Europawahlen 2019 hätte man sich nicht vorstellen können, dass die Europäische Union an der Bekämpfung einer Pandemie beteiligt sein und dabei erfolgreicher als die Regierungen der USA, Indiens, Brasiliens und Russlands sein würde. Man hätte ebenso wenig gedacht, dass in einer Zeitenwende die Europäische Union zusammen mit den USA helfen würde, den Angriffskrieg eines Aggressors gegen ein europäisches Land abzuwehren. Man hätte auch nicht erwartet, dass sich die Europäische Union massiv für eine Politik gegen den Klimawandel und für Digitalisierung einsetzen würde. Viele hatten auch gehofft, Großbritannien würde Mitglied bleiben. In der Wahl 2024 geht es also eigentlich um eine andere Europäische Union mit neuen Betätigungsfeldern. Eine solche dramatische Veränderung der Europäische Union zwischen zwei Wahlen gab es schon lange nicht mehr, zum letzten Mal in den Europawahlen 1989, 1994 und 2009. Die Wähler entscheiden 2024 auch, ob sie diese neuen europäischen Betätigungsfelder der Europäischen Union haben wollen.

Neu ist schließlich viertens an diesen Europawahlen 2024: Sie ist ein Test darauf, ob das Interesse der Bürger an Europawahlen und damit die Wahlbeteiligung weiter zunimmt. Man muss dazu wissen, dass die Wahlbeteiligung bei den ersten Wahlen zum Europäischen Parlament 1979 bei über 60 Prozent lag und danach von Wahl zu Wahl kontinuierlich sank, bis sie 2014 auf dem Tiefpunkt von etwas über 40 Prozent landete. Erst in der Europawahl 2019 nahm die Wahlbeteiligung wieder zu und stieg auf knapp über 50 Prozent. Bei der Europawahl 2024 wird sich entscheiden, ob dies ein Ausreißer war oder vielleicht ein Trend. Für mehr Wahlbeteiligung spricht: Die Bürger spüren, wie stark die Europäische Union auf ihren Alltag vor allem beim Konsumentenschutz und beim Umweltschutz, aber auch bei der Migrationspolitik, wirkt. In den letzten Jahren ist hinzugekommen, dass die Europäische Union auch den Impfstoff gegen das Coronavirus lieferte und darüber hinaus die Europäische Zentralbank durch ihre Zinspolitik die Inflation absenken half.

Es kann durchaus sein, dass deshalb auch bei dieser Europawahl mehr Bürger zu den Urnen gehen als zuvor. Das wäre ein Zeichen dafür, dass die europäische Politik von den Bürgern zu Recht ernster genommen wird und die Parteien die Wahlkämpfe demnächst auch europäischer ausrichten sollten. An der Wahlbeteiligung hängt viel. Aber eine Routinewahl wird die Europawahl 2024 auf keinen Fall werden.

Prof. Dr. Hartmut Kaelble hatte bis 2008 einen Lehrstuhl für Sozialgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er zählt zu den renommiertesten deutschen Sozialhistorikern.

Quelle: ntv.de

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