Kann Kiew nochmal überraschen? Wenn Putins Truppen die Ukrainer "mit der Kreissäge" erwarten


Die russische Armee hat sich auch am Ostufer des Dnjepr in Stellung gebracht.
(Foto: IMAGO/ITAR-TASS)
"Eines der blutigsten Manöver überhaupt", nennt US-Generalstabschef Milley das, was die Ukrainer schaffen müssen: den Durchbruch durch die Truppen des Gegners. Was spricht gegen, was spricht für ihre Chancen?
Die Flammen schießen hoch in den Nachthimmel: Als vergangene Woche nahe der Krimbrücke ein russisches Treibstofflager brennt, sind sich im Internet die meisten Kommentatoren sicher: Es muss ein Angriff der Ukraine sein, mit dem Ziel, die russische Logistik zu untergraben. Am Samstag zuvor hatte ein weiteres Lager in der Krim-Hafenstadt Sewastopol Feuer gefangen.
Sind das vereinzelte Anschläge? Bedeuten sie den baldigen Start der Gegenoffensive? Sind sie bereits die Gegenoffensive? Zwar sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj europäischen Sendern, man warte noch auf weitere Lieferungen von Waffen und Ausrüstung, doch sind solche Aussagen auch strategisch motiviert, daher eingeschränkt verlässlich.
Selenskyjs Behauptung steht im Widerspruch zu einer Aussage des NATO-Oberbefehlshabers Christopher Cavoli. Er hatte bei einer Anhörung vor dem US-Kongress gesagt, das schwere Gerät, das den Ukrainern für die Offensive versprochen wurde, sei zu 98 Prozent vor Ort angekommen.
Darunter sind auch deutsche Leopard-2-Panzer. Inzwischen informierte sich der Generalinspekteur der Bundeswehr, Carsten Breuer, in der Ukraine über die Erfahrungen mit dem Kampfpanzer. Ihm sei verdeutlicht worden, "dass er im Gefecht ist", sagte Breuer später.
Insgesamt, so rechnete US-Verteidigungsminister Lloyd Austin kürzlich öffentlich vor, hat der Westen seit Beginn des Krieges mehr als 230 Kampfpanzer geliefert und mindestens 1500 gepanzerte Fahrzeuge. Mitgerechnet sind da zwar auch die frühen Lieferungen aus Tschechien, Polen und der Slowakei, also neben Westgerät auch Material sowjetischer Bauart, aber die Bilanz ist dennoch beachtlich. Den Anteil an westlichen Kampfpanzern schätzt der Wiener Militärexperte Wolfgang Richter auf 60 bis 80 Stück.
Dem Gegner die Versorgung abschneiden
Wie unmittelbar die ukrainische Offensive bevorsteht, und ob die mehrfach in den letzten Wochen gemeldeten Drohnenangriffe auf russische Logistik schon dazugehören, darüber gehen unter westlichen Experten die Meinungen auseinander. Einerseits haben die Ukrainer sich auch in ihrer ersten Offensive im vergangenen Herbst fähig gezeigt, russische Nachschubwege zuvor empfindlich zu treffen, um die Kampftruppen von der Versorgung abzuschneiden. "Shaping the battlefield", nennt das die US-Armee, man "gestaltet" sich das Schlachtfeld bereits vor dem Kampf.
Der Militärhistoriker Markus Keupp sieht in diesen Anschlägen, auch auf Treibstoffzüge und Straßenverbindungen, bereits die Phase 2 von Kiews erwartetem Gegenschlag. "Die Ukraine greift also - sehr geschickt - die Logistik bis weit ins russische Hinterland an. Mit dem Ziel, dass die Russen am Ende nur noch vorschieben können, was sie bereits im Frontsektor haben", beschrieb Keupp das im "Stern".
Als Ziel klingt das gut. Doch reicht die Dimension der Logistik-Angriffe aus, um bei einer aktiven Front von 1200 Kilometern einen Unterschied zu machen? "Zu sporadisch, zu nadelstichartig", bewertet Militäranalyst Richter die mutmaßlichen Drohnen-Attacken. "Würden die Ukrainer hier den Plan verfolgen, das Gefechtsfeld weiträumig abzuriegeln, dann müssten diese Angriffe eine ganz andere Dimension annehmen." Raketenangriffe müssten in sehr kurzer Zeit großen Schaden anrichten und die Logistik nahezu zum Erliegen bringen. Das Feuer müsse dann sofort "für die Bewegung genutzt werden". Shaping the battlefield - für Richter bräuchte das eine zeitliche Verbindung zum Gefecht.
Ein Manko, das der ehemalige Oberst in den Truppen beider Kriegsparteien sieht: "Sie verstehen es bislang nicht, Feuer und Bewegung zu koordinieren, also das, was man auf der Gegenseite zerstört hat, sofort für eine eigene Bewegung auszunutzen."
Ein wichtiger Faktor für die Gegenoffensive der Ukrainer wird allerdings sein, dass die Russen - dann in Verteidigungsposition - es weniger nötig haben werden, sich zu bewegen. Die ukrainischen Truppen müssen vorrücken, und das, wenn irgend möglich, mit Feuerunterstützung, denn die hindert die Verteidiger daran, die vorrückenden Truppen unter Beschuss zu nehmen.
Ukraine wird noch abhängiger vom Westen
Gilt jedoch "Keine Bewegung ohne Feuer", so bedeutet das einen enorm hohen Munitionsverbrauch. Den Nachschub sehen viele Militäranalysten als eine der größten offenen Flanken in der ukrainischen Armee. Besonders in der jetzigen Phase, in der sich die Truppe zunehmend auf westliche Kampfsysteme umstellt. Für diese hat sie nicht das passende Kaliber in eigenen Lagerbeständen und kann auch nichts selbst nachproduzieren. Sie wird also noch abhängiger von der Unterstützung aus dem Westen als bisher.
Nach Theorien des US-Militärs müssen die Ukrainer als angreifende Partei damit rechnen, Material im Verhältnis 3 zu 1 zu verschleißen, also dreimal so viel wie die russische Seite. Für Verluste an Kämpfern gilt dasselbe Verhältnis. Und die Front ist zwar lang, aber die Russen haben sich vorbereitet: An vielen Orten stehen sie tief gestaffelt, also mit mehreren Verteidigungslinien hintereinander. Die ukrainischen Brigaden müssen dann nicht nur mit vielen Kampftruppen rechnen, die mit Panzerabwehrwaffen Gegenwehr leisten, sondern auch mit starkem Artilleriefeuer.
Die lang ausgehobenen, auf Luftbildern sichtbaren Gräben sollen die Ukrainer dabei möglichst lange in eine Situation der Verwundbarkeit bringen. Denn zum Überwinden der Gräben müssen Brückenlegepanzer eingesetzt werden, die eine mitgeführte Brücke auseinanderfalten, auf der die Kampf- und Schützenpanzer das Hindernis überwinden. Ein Graben von acht bis zehn Metern lässt sich auf diese Weise durchaus überfahren. Allerdings entsteht dadurch ein Nadelöhr, das alle vorrückenden Einheiten durchqueren müssen.
Die Panzer können also nicht mehr breit fahren wie zuvor, sondern bilden über längere Zeit ein konzentriertes Ziel für Panzerabwehrwaffen und auch für die russische Artillerie. Dabei verfügt Moskaus Armee laut Richter über endphasengelenkte Munition, die sich in den letzten Metern des Anflugs selbst auf ihr Ziel ausrichtet und dadurch sehr exakt attackiert.
Milley schaut skeptisch auf die Offensive
"Die Durchbruchsoperation ist generell eines der schwierigsten und blutigsten Manöver überhaupt", sagt der Generalstabschef der US-Streitkräfte, Mark Milley, über diese Herausforderung. Auf dem Rückflug in die USA nach dem letzten Treffen der Ukraine-Kontaktgruppe Mitte April in Ramstein blickte der ranghöchste US-Militär im Gespräch mit der Journalistin Julia Ioffe skeptisch auf die kommenden Monate. In Ramstein habe es geheißen, so Milley, dass die Russen die ukrainischen Offensiv-Brigaden "mit der Kreissäge" erwarten.
Strategisch sinnvoll erscheint ein Durchbruchsversuch im Südosten des Landes, um bis zum Asowschen Meer einen Keil in die russische Landbrücke zu schlagen und die Nachschublinien zur Krim zu kappen. Doch gerade weil ein Angriff dort strategisch so viel Sinn ergeben würde, träfen die Ukrainer dort laut dem Generalstabschef auf einige der am schwersten befestigten russischen Installationen.
Jeder Tag, der nun verstreicht, ohne dass die Offensive sichtbar startet, spricht dafür, dass die Ukrainer sich der Schwere ihrer Aufgabe bewusst sind und sich die nötige Zeit nehmen, um den Gegenschlag detailliert vorzubereiten. "Für eine solche Offensive entwirft die Militärführung nicht einen einzigen Plan, der stur ausgeführt wird, sondern muss mehrere Optionen ausarbeiten, wie und wo man angreifen könnte", erläutert der Militärexperte Gustav Gressel im Podcast "Ostausschuss der Salonkolumnisten".
Die finale Abwägung, welche davon am ehesten Erfolg verspricht, basiere dann auf Annahmen über - unter anderem - russische Truppenstärken und Reaktionszeiten. Darum liefen derzeit "einige kleinere Angriffe, um auszutesten, welche Reaktionszeiten die Russen haben, wie stark sie mit welchen Kräften wo stehen", so der Forscher vom European Council on Foreign Relations (ECFR). Für denkbar hält Gressel auch, "dass die Offensive startet, aber nach ein oder zwei Tagen wieder verpufft, weil es nur ein Scheinangriff war".
Ein solches Täuschungsmanöver, das den Gegner dazu bringen könnte, mit einigem Aufwand seine Kräfte dorthin zu verlegen, "lässt für eine gewisse Zeit freie Hand an anderen Stellen der Front. Denn die Russen brauchen zum Umdisponieren ihrer Kräfte erheblich länger". Diesen Vorteil werden die ukrainischen Truppen laut Gressel für sich nutzen, und auch die NATO setzt auf die Fähigkeit der Ukrainer, die Russen zu überrumpeln - wie sie es schon vor Kiew und in Charkiw erfolgreich taten.
NATO hat mit den Ukrainern "gearbeitet"
Oberbefehlshaber Cavoli versicherte dem US-Kongress, die Ukrainer seien "in einer guten Position" - mit einigen Schwächen, "über die ich lieber nicht öffentlich sprechen will". Zuversichtlich stimme ihn "ein möglicher Überraschungseffekt". Man habe mit den Ukrainern an solchen Dingen "gearbeitet".
Gleichzeitig treten in der russischen Militärführung Verwerfungen sichtbar zutage. Die Macht des Oberbefehlshabers schwinde zunehmend, analysiert das US-Institut für Kriegsstudien (ISW). Armeegeneral Waleri Gerassimow sei immer weniger in der Lage, seine Befehlshaber zu kontrollieren. Dadurch verliert die Armee aus Sicht der Analysten die Fähigkeit zu kohärenten Operationen, für die verschiedene Verantwortungsbereiche miteinander verzahnt werden müssen. Es sei "sehr unwahrscheinlich, dass das russische Militär diese Probleme in der Befehlskette in naher Zukunft lösen kann", so das ISW.
Derlei Konflikte drücken auch auf die Kampfmoral der Truppe, die noch nie wirklich hoch war in den 15 Monaten dieses Krieges - für viele Analysten ein Faktor, der die Russen deutlich schwächt. Demgegenüber berichtete Generalinspekteur Breuer von seinem Ukraine-Besuch, er habe bei seinen Gesprächspartnern einen "nahezu schon unbändigen Willen" erlebt, "diesen Krieg nicht nur zu beenden, sondern auch zu gewinnen". Sein US-Kollege Mark Milley nimmt den Kampfgeist der Ukrainer ähnlich wahr: "Sie waren frei, und ein freies Volk ist nicht leicht zu erobern."
Quelle: ntv.de