Verteidigung fast unmöglich So dünn sind die russischen Linien besetzt


Für die Ukraine ist entscheidend, dass sie Ort und Zeit möglicher Offensiven geheim halten kann, bis sie zuschlägt.
(Foto: AP)
Russland baut die Verteidigungslinien in der Ukraine massiv aus. Doch haben die Invasoren auch genug Soldaten und Material, um diese ausreichend zu besetzen? Berechnungen zeigen, dass das auf der gesamten Frontlänge so gut wie unmöglich ist.
Die Moskauer Militärführung weiß, dass eine oder mehrere ukrainische Offensiven bevorstehen, und versucht schon seit Monaten sich darauf vorzubereiten, indem sie Verteidigungslinien entlang der gesamten Frontlinie errichtet und ausbaut. Sie bestehen aus Schützengräben und Befestigungsanlagen, die sich über mehrere Zonen und teilweise mehrere Dutzend Kilometer in die Tiefe erstrecken. Doch die Invasoren können sie vermutlich kaum oder nur sehr dünn besetzen. Wenn sie nicht genau wissen, wo die Ukraine zuschlägt, haben sie kaum eine Chance, den Angriff abzuwehren, vermuten Experten.
Wie massiv und auf welche Weise Russland die Linien ausbaut, stellt der ehemalige finnische Offizier und OSINT-Analyst Pasi Paroinen in einem langen Twitter-Thread vor. Er zeigt an einem Beispiel im Oblast Saporischschja, dass sich die Anlagen über mehrere Abschnitte von der Front 25 bis 30 Kilometer ins Hinterland erstrecken.
Die erste Zone befindet sich drei bis vier Kilometer hinter der Front und besteht aus einzelnen Außenposten und Stützpunkten. Es folgt eine erste geschlossene Verteidigungslinie mit zwei bis drei Kilometern Tiefe. Wie andere Linien orientiert sie sich an dominanten Höhen und Kammlinien. Sie besteht aus Schützengräben und Stützpunkten.
Zone 3 mit Reservetruppen und möglichen Täuschungspositionen ist vier bis fünf Kilometer tief. Laut Paroinen befinden sich dort die Mehrheit der russischen Artillerie sowie mechanisierte Reserven mit Unterständen für Fahrzeuge und Ausrüstung.
Stadt als letzte Festung
Zone 4 ist die Hauptverteidigungslinie. Sie besteht aus mehreren Schichten stark ausgebauter Schützengräben, Panzerabwehrgräben und "Drachenzähnen" aus Beton. Vermutlich gibt es auch Minenfelder. Diese drei bis vier Kilometer tiefen Befestigungen bildeten einen nahezu durchgehenden Verteidigungsgürtel entlang der Front, schreibt Paroinen.
Es folgt eine Zone mit Rückzugs- und Reservepositionen. Die sechste Zone bildet in diesem Beispiel die von einem Graben und Stützpunkten umgebene 23.000-Einwohner-Stadt Tokmak.
Das sind beeindruckende Verteidigungsanlagen, doch sie müssen auch besetzt werden, was für die russischen Truppen nahezu unmöglich zu sein scheint. Der ehemalige Offizier im italienischen Alpini-Generalkommando, Thomas C. Theiner, erklärt anhand eines NATO-Handbuchs, warum.
300 Mann pro Kilometer alleine für die erste Linie nötig
In einem ebenbürtigen Kampf gegen mechanisierte Divisionen und Panzerdivisionen seien alleine in der ersten Schützengraben-Linie pro Kilometer 300 Mann nötig, schätzt er. Für einen 30 Kilometer langen Frontabschnitt sind das 9000 Soldaten. Hinter ihnen müssten 600 Kampfpanzer, 900 Schützenpanzer und weitere 22.000 Mann positioniert sein, so Theiner. Die Ausrüstung der insgesamt 31.000 Soldaten schätzt er auf 180 Spike-Panzerabwehr-Lenkwaffen, 900 Stück Panzerfaust 3 sowie mehr als 240 81- und 120-Millimeter-Mörser.
Zur Unterstützung dieser Truppen sind laut Theiner 240 oder mehr 155-Millimeter-Haubitzen sowie zwei Mittelstrecken- und Kurzstrecken-Luftverteidigungsbataillone nötig. "Insgesamt sollten 54.000 Mann eingesetzt werden, um 30 km Front zu halten, mit zusätzlichen 36.000 Mann als Reserve, falls der Feind in der Lage sein sollte, auszubrechen."
Damit nicht genug. Diese Reserve braucht laut Theiner 400 Kampfpanzer, 600 Schützenpanzer und 180 155-Millimeter-Haubitzen. "Insgesamt werden 90.000 Soldaten benötigt, um eine 30 km lange Front gegen einen gleichrangigen Feind zu verteidigen, der acht bis zehn Panzer- und Motorgewehrdivisionen für eine Großoffensive einsetzt", so Theiner. "Insgesamt ist die Front aber rund 800 Kilometer lang. Und die Ukraine ist dabei, das Äquivalent von sechs bis acht Divisionen einzusetzen, um nur an einem Punkt dieser Linie anzugreifen, und die Russen wissen nicht, wo." In der NATO besteht eine Division aus 10.000 bis 20.000 Soldatinnen und Soldaten.
Russland hat weder genug Soldaten noch Material
Um eine solche konzentrierte ukrainische Offensive aufzuhalten, würden die Russen um die 54.000 Mann pro 30 Kilometer Frontverlauf aufbringen müssen, schätzt der Experte. Das wären also 1,44 Millionen Soldaten. Theiner geht aber davon aus, dass die Ukraine irgendwo in dem etwa 300 Kilometer langen Frontabschnitt zwischen dem Fluss Dnipro und der Stadt Donezk angreifen wird. Alleine für dessen Verteidigung müsste Moskau laut Theiner 540.000 Mann einsetzen, wobei noch keine Reserve berücksichtigt sei.
Der Italiener schätzt die russische Truppenstärke in der Südukraine auf rund 90.000 Soldaten. Das wären 300 Mann pro Kilometer - so viel wie die NATO alleine für die vordersten Schützengräben für nötig befindet. Selbst wenn die Russen insgesamt 300.000 bis 360.000 Soldaten in der Ukraine hätten und die meisten Einheiten an wahrscheinlichen Angriffspunkten einsetzten, hätten sie weder genug Männer noch Material, um einen ukrainischen Angriff zu stoppen, schreibt Theiner.
"Blutige Schlacht, die Putin nicht gewinnen kann"
Russland habe auch nicht die Mittel und Kapazitäten, um Truppen bei einem Durchbruch des Gegners schnell verlegen zu können. Der Schlüssel für die Ukraine liege darin, ihren Angriffspunkt bis zum letzten Moment geheim zu halten, so Theiner. Und dafür würden ukrainische Täuschungen, Finten und Ablenkungsangriffe sorgen.
"Putin wird alles, was er hat, auf die ukrainische Offensive werfen, und es wird ein blutiger und brutaler Kampf, aber auch eine Schlacht, die Russland nicht gewinnen kann." Moskau habe die dazu nötigen Männer und das Material bei ihren vergeblichen Versuchen, Bachmut einzunehmen, verbrannt, schreibt Theiner.
Quelle: ntv.de