Monatelang haben sich beide Seiten auf diesen Tag vorbereitet: Mit einem Großaufgebot stürmt die Polizei das kleine Dorf Lützerath in Nordrhein-Westfalen. Schnell stehen sie im Camp der Aktivisten und räumen erste Barrikaden. Dabei treffen sie allerdings auch auf heftige Gegenwehr.
Als die selbst installierte Sirene im besetzten Lützerath in den frühen Morgenstunden aufheult, reißt sie die meisten Aktivisten aus dem Schlaf. Sofort ist ihnen klar, was der schrille Ton bedeutet: Der Tag, auf den sie sich monatelang vorbereitet haben, ist gekommen - die Polizei räumt Lützerath. Die Kette an Einsatzwagen auf der Landstraße vor dem kleinen Ort bei Mönchengladbach reißt nicht ab. Gerade aufgewacht, bilden Dutzende Aktivisten innerhalb von Sekunden Menschenketten und stemmen sich mit aller Kraft gegen die Abwehrschilder der Polizei. Die greift hart durch. Dann fliegen Molotow-Cocktails und Böller. Einige setzen den Boden in Flammen, andere prallen direkt am Helm der Beamten ab.
Es ist das erste Mal seit dem Start ihres Einsatzes in und um Lützerath, dass die Einsatzkräfte den Ortskern betreten. Das bunt beklebte Ortsschild war bisher die Grenze - in den vergangenen Tagen räumten die Polizisten lediglich Barrikaden und Hochsitze davor. Nun aber geht es um die Räumung des Camps Hunderter Aktivisten. Die haben das Dorf besetzt, um seinen Abriss und damit die Kohleförderung in Lützerath zu verhindern. Die Räumung dieser eigens geschaffenen und provisorischen Infrastruktur wird ein riesiger Einsatz mit erheblichen Risiken, wie der Aachener Polizeichef Dirk Weinspach im Vorfeld deutlich machte.
Wie riesig, das wird an diesem Mittwoch deutlich: Die gewaltige Tagebaukante der Kohlegrube Garzweiler II, die nur ein paar Meter vor Lützerath liegt, rückt an diesem Tag in den Hintergrund. Vielmehr säumen mehrere Hundertschaften, Reiterstaffeln, Wasserwerfer, LKWs und ein Meer aus Einsatzwagen den Horizont des kleinen Ortes. Um all dem etwas entgegenzustellen, haben allerdings auch die Aktivisten ein System entwickelt.
Aktivisten setzen auf Höhe
So wirkt Lützerath seit heute wie eine Mischung aus Labyrinth und Hochseilgarten. Wo gestern noch ein Weg war, ist ein Durchkommen kaum noch möglich. Straßen wurden aufgebrochen und Barrikaden aus Holzplatten, Gittern und Ziegelsteinen gebaut. Ausgehobene Gräben, die sich nach einem Regenschauer bis oben mit Wasser gefüllt haben, zwingen oft ebenso zum Umkehren wie Metallpfeiler, die tief im Boden vergraben wurden. Wer sich schließlich einen Weg durch die Hindernisse bahnt, den erwartet tief im Camp an vielen Stellen eine fast schon gespenstige Ruhe.
Viele Zelte wurden bereits abgerissen, alle paar Meter hat sich eine Gruppe von Beamten formiert. Jeden Ansatz einer Sitzblockade oder Menschenkette würden sie im Keim ersticken. Da sie kaum noch jemanden ohne Presseausweis passieren lassen, sind dort, wo gestern noch Hunderte Aktivisten lebten, nur noch wenige von ihnen anzutreffen. Die Polizei, so wirkt es, hat das Camp schon am Vormittag eingenommen. Ein anderes Bild ergibt sich allerdings bei einem Blick in die Baumkronen.
"Wir haben bereits vorher geplant, uns alle hoch oben zu verschanzen", sagt Raphael Thelen, Sprecher der Organisation "Unräumbar", zu der Initiativen wie die Letzte Generation oder Fridays For Future gehören. Die Aktivisten haben den Raum zwischen Dutzenden Baumhäusern und -kronen zu einem Netz aus Seilen, sogenannten Traversen, verwandelt. Hunderte Aktivisten sitzen in Holzhütten in rund zehn Metern Höhe, hängen mit Karabinerhaken in Schaukeln aus Seilen oder sitzen auf meterhohen Holzstämmen. Einer hat ein ganzes Zelt in die Höhe gehievt. "In zwei Metern Höhe dürfen uns normale Polizisten nicht räumen", erklärt der 37-jährige Thelen. Den Beamten bleibt nichts anderes übrig, als jedes Mal eine Klettereinheit oder eine Hebebühne anzufordern. "Das macht es natürlich viel schwieriger und dauert länger." Genau darum gehe es den Aktivisten. "Wir wollen einfach so lange wie möglich mit unserem Körper auf dieser Kohle sitzen bleiben", sagt Thelen.
Mit "so lange wie möglich" meinen die Aktivisten durchaus mehrere Wochen. "Wir sind darauf vorbereitet, so lange hier oben zu bleiben", ruft die 27-Jährige Indi, die sich im oberen Stockwerk eines heruntergekommenen Hauses verschanzt hat, aus dem Fenster. Die junge Aktivistin, deren Locken unter der grauen Wollmütze hervorlugen, versichert: Weder zum Essen noch für Toilettengänge müssen die Aktivisten herunterkommen.
Es riecht nach Sprengstoff
In zwei, fünf und zehn Metern Höhe wird gesummt und gesungen - "Lützerath bleibt, wir leisten Widerstand, Widerstand". Ein Aktivist klimpert auf einem Klavier, das er in die Höhe manövriert hat, ein anderer fragt seine Baumhausnachbarn per Megafon, wie es ihnen geht. Sogar für Spott ist Raum: "Können die Pferde der Reiterstaffeln denn klettern?", fragt eine Aktivistin. Die Hektik des Morgens scheint dort oben fast vergessen. Allerdings nur, solange die Einsatzkräfte ihnen nicht zu nahe kommen. Immer wieder eskaliert die Situation - etwa wenn die Polizei eine Sitzblockade auflöst oder eine verbarrikadierte Halle räumt. Schreie wie "Verpiss dich, Bulle" oder Sprechchöre zu "Wir sind friedlich, was seid ihr" hallen dann durch das ganze Camp.
Der größte Teil der Aktivisten protestiert tatsächlich friedlich, das wird an diesem ersten Tag der Räumung deutlich. Allerdings gibt es Ausreißer - vor dem ehemaligen Hof des Dorfes liegt der beißende Geruch von Sprengstoff in der Luft. Einzelne Vermummte werfen immer wieder mit Böllern von dem Dach des Gebäudes. Gleiches gilt offenbar für die andere Seite dieser Räumung. Bei der Erstürmung des Dorfes am Morgen "gab es durchaus Momente, die auch sehr gefährlich waren", erklärt die grüne Bundestagsabgeordnete Kathrin Henneberger, die als parlamentarische Beobachterin vor Ort ist. "Da hätte man wirklich auch etwas liebevoller agieren können."
Die Grünen-Politikerin vermittelt seit ein paar Tagen zwischen der Polizei und den Aktivisten. Ihre wichtigste Aufgabe sei es heute, zu erreichen, dass die Demo-Sanitäter bleiben dürfen. Das sind medizinische Fachkräfte, die freiwillig hier sind und denen "die Aktivisten mehr vertrauen", sagt Henneberger. Die Verhandlungen muss sie allerdings ein paar Stunden später als gescheitert erklären: Die Demo-Sanitäter müssen das Gelände verlassen, entscheidet die Polizei.
"Protest ist nicht symbolisch"
"Natürlich macht mir das alles hier Angst", gesteht Thelen, der bis vor zehn Tagen noch als Journalist gearbeitet hatte. "Als die Polizei heute Morgen mit aller Macht das Camp stürmte, wusste ich nicht mehr, wo vorne und hinten ist." Der schlaksige Mann mit den dunklen Locken berichtet von Schmerzgriffen der Beamten, von Einkesselungen und Bulldozern, die auf das kleine Dorf zurollten. Außerdem, so der Berliner, sei abgemacht gewesen, dass die Polizei heute zunächst einen Zaun um Lützerath zieht. Von einem Überfall auf das Camp sei keine Rede gewesen. Er schimpft: "Das finde ich scheiße, auch bei Protesten gibt es Regeln."
Gerade formieren sich hinter Thelen einige Beamte, sein Blick wird ernster: Es gehe hier keinem um das Scheitern der Polizei, sondern um die 1,5-Grad-Marke, die mit einer Abbaggerung von Lützerath aus wissenschaftlicher Sicht nicht mehr zu erreichen sei. "Dieser Protest in Lützerath ist nicht nur rein symbolisch", Thelen ist nun fast aufgebracht. Er hat daher entschieden, im Camp zu bleiben - "wenn es sein muss, bis zum Ende der Räumung".
Damit ist Thelen nicht alleine - trotz der polizeilichen Durchsage, die alle paar Minuten durch Lützerath dringt: Der Aufenthalt in Lützerath ist illegal. Noch gestatte es die Polizei, straffrei zu gehen. Bald aber setze sie "polizeiliche Maßnahmen" ein. Wer bleibt, könnte also in Gewahrsam landen. Immerhin 200 Menschen seien diesem Aufruf gefolgt und freiwillig gegangen, schreibt die Aachener Polizei auf Twitter. Die Lage in Lützerath sei im Moment friedlich - anders als beim Betreten des Ortes, als Pyrotechnik und Molotow-Cocktails gegen die Beamten eingesetzt wurden.
Für die Beamten, die zahlenmäßig deutlich überlegen wirken, sind die Holzstämme und Metallpfeiler am Morgen kaum ein Problem. Es dauert keine halbe Stunde, da haben sie jene asphaltierte Straße, auf der gestern noch eine Mahnwache für Lützerath aufgebaut war, mit LKW und Bagger geräumt. Auch das Ortsschild gibt es schon am Vormittag nicht mehr. Die Verzögerungstaktik durch die Hochbauten scheint allerdings - zumindest vorerst - aufzugehen: Fast alle Aktivisten sitzen am Abend noch immer zwischen den Baumkronen Lützeraths.
Quelle: ntv.de