Studien widersprechen sich Wird die Lützerath-Kohle noch gebraucht?
11.01.2023, 15:02 Uhr
Der Schaufelbagger ist nicht mehr weit von Lützerath entfernt.
(Foto: picture alliance/dpa)
Lützerath ist längst zum Symbol deutscher Klimaschützer geworden. Energieriese RWE will den Ort abreißen, um noch mehr Braunkohle zu fördern. Klimaschutzaktivisten wollen den winzigen Ort erhalten, weil die Kohle unter Lützerath nicht mehr gebraucht werde. RWE und das grüne NRW-Wirtschaftsministerium halten dagegen.
In Lützerath lebt offiziell kein einziger Mensch mehr. Die kleine Siedlung im Kreis Heinsberg soll weggebaggert werden. Zugunsten von Garzweiler II, dem riesigen Tagebau, wo der Energiekonzern RWE seit Jahrzehnten Braunkohle ausschaufelt. Lützerath ist nur noch wenige Minuten vom riesigen Schaufelbagger des Tagebaus entfernt. RWE will die Mini-Siedlung daher abreißen, sobald es geht. Um noch mehr Braunkohle im Rheinischen Revier westlich von Köln zu fördern.
Die Einwohner Lützeraths wurden in den vergangenen Jahren umgesiedelt, Klimaschutzaktivisten wollen den Ort dennoch erhalten, besetzen die Siedlung, haben gut zwei Dutzend Baumhäuser gebaut. Sie sehen das Pariser 1,5-Grad-Ziel gefährdet.
Lützerath, das nur noch aus den Resten von ein paar Bauernhöfen besteht, wird derzeit zum Schicksalsort der deutschen Klimapolitik hochstilisiert. Auf der einen Seite die Polizei in Diensten des Staates, auf der anderen Seite die Aktivisten im Kampf gegen die ihrer Einschätzung nach folgenschwere Entscheidung der Regierung.
Kampf gegen die Polizei überlagert Kohle-Frage
Von derzeit "800 bis 900 Menschen", die sich der Räumung der Polizei in den Weg stellen, geht Dina Hamid, Sprecherin des Bündnisses "Lützi lebt", im Interview mit ntv.de aus. Am vergangenen Wochenende waren sogar mehrere Tausend Menschen gekommen, um für den Erhalt von Lützerath und gegen die weitere Ausdehnung des Kohleabbaus zu demonstrieren. Die radikalsten Braunkohle-Gegner waren da schon längst damit beschäftigt, sich auf die Scharmützel mit der Polizei vorzubereiten. "Die Aktivisten sind dabei, weitere Barrikaden zu bauen, Gräben auszuheben, um es der Polizei so schwierig wie möglich zu machen", berichtete ntv-Reporter Jan Heikrodt.
An diesem Mittwochmorgen hat die Polizei mit der Räumung begonnen. Nun wird der Kampf zwischen Einsatzkräften und Aktivisten die Schlagzeilen dominieren, während das eigentliche Thema in den Hintergrund rückt: die Kohle, die unter Lützerath liegt und abgebaggert werden soll. Braucht es die überhaupt, um die Energiesicherheit des Landes zu sichern?
Die Klimaschutzbewegung weist das entschieden zurück. Das Bundeswirtschaftsministerium und das ebenfalls grün geführte nordrhein-westfälische Wirtschaftsministerium halten dagegen.
Um die Versorgung sichern zu können, sei es "leider notwendig, die unter Lützerath liegende Kohle zu verwenden", sagt die NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur von den Grünen, deren Jugendorganisation derzeit besonders eifrig in Lützerath gegen die Entscheidung der Regierung, und damit auch gegen die eigene Parteispitze, protestiert.
"Lützerath muss geräumt werden"
Lützerath wegzubaggern ist das Resultat eines bemerkenswerten Kompromisses, den Anfang Oktober Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck, NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur und RWE-Vorstandschef Markus Krebber geschlossen hatten. Dieser sieht vor, das Ende der Braunkohleverstromung von 2038 auf 2030 vorzuziehen. Außerdem wurde entschieden, fünf weitere weitgehend verlassene Dörfer im rheinischen Braunkohlerevier zu erhalten und vor dem Schaufelbagger zu bewahren.
Als Gegenleistung für den früheren Ausstieg wurden RWE Zugeständnisse gemacht: die Reaktivierung dreier bereits abgeschalteter Kohlekraftwerke und der Weiterbetrieb von zwei weiteren Kohlekraftwerken bis 2024, die ursprünglich Ende 2022 abgeschaltet werden sollten. Und das definitive Aus für Lützerath wurde ebenfalls bekräftigt.
RWE hält den Abriss der Siedlung für zwingend notwendig, um die aus der Sicherheitsbereitschaft zurückgeholten Braunkohleblöcke und die länger laufenden Kraftwerke mit Braunkohle zu versorgen. Der Energiekonzern bezieht sich auf insgesamt drei Studien, die vom NRW-Wirtschaftsministerium in Auftrag gegeben wurden. Diese kommen zu dem Ergebnis, dass selbst im Szenario mit dem geringsten Kohlebedarf die Braunkohle unter Lützerath gebraucht werde. Der künftige Bedarf übersteige die förderfähigen Braunkohlenvorräte, wenn Lützerath nicht abgebaggert werde, heißt es. Selbst im günstigsten Szenario fehlten mindestens 17 Millionen Tonnen Braunkohle.
"Das Ergebnis ist, dass eine Landzunge oder Insellage der Siedlung Lützerath nicht zu rechtfertigen ist. Dementsprechend muss, damit die Energieversorgungssicherheit in diesem und im nächsten Winter gewährleistet werden kann, weil wir alles dafür tun wollen, so viel Gas wie möglich zu ersetzen, Lützerath geräumt werden", sagte Neubaur auf der Pressekonferenz mit Habeck und RWE-Chef Krebber im Oktober.
"Kohle würde auch ohne Lützerath ausreichen"
Die Aktivisten beziehen sich auf eine ähnliche Studie, die allerdings zum gegenteiligen Ergebnis kommt. Die Kohle unter Lützerath werde nicht mehr benötigt, um die Energiesicherheit Deutschlands zu gewährleisten, heißt es in dem Gutachten, das von der Kampagne "Europe Beyond Coal" ("Europa jenseits von Kohle") in Auftrag gegeben wurde. Demnach brauchen die Kraftwerke bis 2030 maximal noch 271 Millionen Tonnen Braunkohle. Aber schon ohne die Region um Lützerath seien bereits 300 Millionen Tonnen genehmigt worden.
Die Ökonomin Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaft (DIW), eine der Autorinnen der Studie, betont im ntv-Interview, dass die Kohlekraftwerke aufgrund der Energiekrise "zwar etwas mehr ausgelastet" würden, im Gegenzug Lützerath aber "nicht notwendigerweise zerstört" werden müsste. "Wir könnten auf die Kohle, die dort zur Verfügung steht, verzichten und es würde trotzdem ausreichen."
"Auch ein an die Gasknappheit und den Kohleausstieg im Jahr 2030 angepasstes Abbaugebiet sichert die deutsche Energieversorgung", heißt es in dem Gutachten. Den Studien der Gegner-Seite werfen die Klimaschützer Fehleinschätzungen vor und dass diese mit heißer Nadel erstellt worden seien.
RWE gehe es vor allem ums Geld, sagt Catharina Rieve. Die Energiewissenschaftlerin von der Europa-Universität Flensburg ist Teil der "Coal Exit Research Group" und hat ebenfalls an der Studie, auf die sich die Klimaaktivisten berufen, mitgearbeitet. Rieve sagte dem Deutschlandfunk, für RWE sei es "betriebswirtschaftlich günstiger, Lützerath noch abzubaggern". Die Kohle liege hier deutlich dichter als unter dem bereits abgerissenen Ort Immerath. Es müsse deshalb weniger Abraum aus dem Tagebau entfernt werden. RWE bestreitet, dass sich die Kohle leichter und damit profitabler gewinnen lasse.
Rechtslage ist eindeutig
RWE stellt die Studienergebnisse der gegnerischen Seite ebenfalls infrage. So seien etwa "die Komplexität der Tagebauführung und die Rekultivierung häufig nicht beachtet" worden, teilte der Energiekonzern dem Deutschlandfunk mit. RWE betont die Unabhängigkeit der Studien und verweist darauf, dass es längst auch um die Nachnutzung des Tagebaus gehe. Der Bereich Lützerath müsse alleine schon deshalb abgebaggert werden, damit man genügend Kiese, Sande und Löss für die Nachnutzung habe. In dem Gebiet sollen nach Ende des Braunkohle-Zeitalters Seen entstehen und fruchtbarer Ackerboden geschaffen werden.
Der Kampf um Lützerath ist auch ein Kampf um wissenschaftliche Deutungshoheit. So wenig eindeutig die Studienlage so ist, so klar ist aber die Rechtslage auf Seiten von RWE. Das verlassene Lützerath gehört längst dem Energieriesen. Die Entscheidung, die Siedlung abzureißen und den Tagebau Garzweiler II auszudehnen, ist getroffen.
Wann Lützerath weggebaggert wird, hängt jetzt davon ab, ob und wie schnell es der Polizei gelingt, das Gelände vor Ende der Rodungszeit zu räumen. Die Zeit drängt. Bis zum 28. Februar muss RWE sämtliche Bäume auf dem Gelände fällen. Danach sind Rodungen laut Bundesnaturschutzgesetz bis Ende September grundsätzlich verboten, weil die Brutsaison beginnt. So lange wollen die Aktivisten durchhalten, um Lützerath doch noch zu retten.
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Quelle: ntv.de