Politik

Im Zeichen des Hasen Xi Jinping geht bei Corona volles Risiko ein

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Am 22. Januar beginnt in China das "Jahr des Hasen", die Reisewelle zum Neujahrsfest - hier an einem Bahnhof in Schanghai - droht die Situation noch deutlich zu verschärfen.

(Foto: REUTERS)

Nach jahrelanger Null-Covid-Propaganda vollführt die chinesische Staatsführung im Dezember urplötzlich die Kehrtwende. Seitdem füllt die hochinfektiöse Omikron-Variante Krankenhäuser und Krematorien. Die Reisewelle zum chinesischen Neujahrsfest droht die Situation deutlich zu verschärfen. Steht Xi Jinpings Machtanspruch eine Feuerprobe bevor?

In den frühen Morgenstunden des 27. November 2022 geschah in Schanghai etwas Unfassbares. Aufgebrachte Menschenmengen auf der Ürümqi-Straße skandierten pausenlos Parolen wie "Kommunistische Partei, tritt ab!", "Xi Jinping, leg das Amt nieder!", "Gebt uns Freiheit oder gebt uns den Tod!" und vor allem "Meinungsfreiheit! Pressefreiheit!".

Das blanke Blatt Papier, in verzweifeltem Protest gegen die eigene Ohnmacht den Unterdrückern entgegengestreckt, triumphierte für einen kurzen Augenblick über staatliche Zensur. Bereits am nächsten Abend hinderten ein Großaufgebot an bewaffneten Sicherheitskräften und Absperrwände die Menschen in Schanghai, Peking, Chengdu, Wuhan und Hangzhou daran, sich erneut auf den Plätzen der Vortage zu versammeln. Den Demonstrationen für ein Ende der harten Corona-Maßnahmen schien der Boden unter den Füßen weggezogen.

Wie lässt sich künftig das Narrativ der chinesischen Überlegenheit verkaufen?

Am 7. Dezember verkündete die Regierung in Peking dann einem unvorbereiteten Land drastische Lockerungen. Lockdowns, Zwangsquarantäne, Massentests oder Kontaktverfolgung sind seither ausgesetzt, während eine Omikron-Welle durch China rollt. Infizierte, die leichte oder keine Symptome zeigen, müssen zur Arbeit. Auch das Reisen ist wieder erlaubt.

Es war nur ein Zufall, dass das Gesicht der Null-Covid-Politik, Vizepremierministerin Sun Chunlan, auf dem 20. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas aus dem Politbüro abgewählt wurde und kaum zwei Monate später eine beispiellose Kehrtwende der chinesischen Staatsführung das Ende der rigiden Covid-Einschränkungen besiegelte. Doch was heißt die Drehung um 180 Grad für Chinas Staatspräsidenten, dessen persönlicher Erfolg bislang stark mit der Null-Covid-Politik verbunden war? Wie lässt sich das Narrativ von der chinesischen Überlegenheit im Kampf gegen das Virus zukünftig der eigenen Bevölkerung verkaufen? Auf internationalen Druck hin mussten die Behörden die Zahl derjenigen, deren Tod im Zusammenhang mit Covid-19 steht, unlängst steil nach oben korrigieren. Statt noch länger nur 37 Todesfälle auszuweisen, sprechen offizielle chinesische Angaben nun von fast 60.000 Toten seit der Lockerung im Dezember.

Propaganda scheitert an moderner Informationsbeschaffung

Dass für China die Auswirkungen der aktuellen Corona-Infektionswelle gefährlicher sind, als es die Parteiführung in Peking bisher eingestand, wiesen die "Washington Post" und der Sender CNN Anfang Januar mit Satellitenaufnahmen von Krematorien und Bestattungshäusern nach. So zeigt ein Abgleich von Fotos, die das Verkehrsaufkommen vor und nach der Lockerung vor ausgewählten Objekten in Peking, Kunming, Chengdu und anderen Städten dokumentieren, dass die Arbeitsauslastung deutlich zugenommen hat.

Auch chinesische Beobachter teilen auf sozialen Netzwerken Videos, wie Menschen mit ihren Toten in langen Schlangen vor Krematorien warten. Erst am 12. Januar wurde ein Video aus Chongming Dao im Norden von Schanghai auf Twitter veröffentlicht: Im Auto fahren zwei Frauen an fast 40 Särgen die Straße entlang. Unter trübem Himmel tragen die Hinterbliebenen selbst im Freien alle Masken. Am Retweet des Videos beteiligte sich ein Twitter-Account, der unter dem Pseudonym Li Laoshi ("Lehrer Li") dazu aufruft, durch Fotos und Videos anonym unzensierte Informationen zu verbreiten. Bei den Corona-Protesten im letzten Jahr spielte dieser Account als Informationsquelle eine wichtige Rolle. Obwohl der Mikroblogging-Dienst Twitter seit 2009 in China verboten ist, greifen Chinesen über VPNs auf die Plattform zu. Anders als auf Weibo, dem chinesischen Pendant, werden Inhalte nicht binnen Minuten gelöscht, sondern bleiben erhalten. Die Propaganda der Partei stößt in einem modernen, hochdigitalisierten Land so an ihre Grenzen. Diese Entwicklung dürfte die chinesischen Machthaber Ende November erschreckt haben.

Chinas Vorbereitung auf die Omikron-Welle

Chinas Chef-Epidemiologe Liang Wannian begründet den Zeitpunkt der Lockerungen im Interview mit dem chinesischen Sender CCTV mit einer nur noch schwachen Pathogenität des mutierten Omikron-Stamms. Der Epidemiologe vergleicht die gegenwärtige Impf-Lage mit der Corona-Welle in Hongkong Anfang 2022. "Das Erste, was mir in Hongkong auffiel, war, dass 94 Prozent der Todesfälle ältere Menschen betrafen. Ich habe dann die Situation genau analysiert und festgestellt, dass die Impfrate in Hongkong damals bei über 86 Prozent lag, die Impfrate bei älteren Menschen aber weniger als 15 Prozent betrug", so Liang.

Am 22. Januar beginnt in China das "Jahr des Hasen", die Reisewelle zum Neujahrsfest droht die Situation noch deutlich zu verschärfen. Liang Wannian behauptete, die Impfquote bei den Alten liege chinaweit nun bei mehr als 80 Prozent, weshalb die Lockerungen ein kalkulierbares Wagnis seien. Anders sehen es westliche Forscher, die angesichts der Reisewelle zum Neujahrsfest und der damit verbundenen Ansteckungsgefahr für die überalterte, vielfach ungeimpfte ländliche Bevölkerung einen Corona-Tsunami erwarten. Die chinesischen Impfstoffe Sinovac und Sinopharm zeigen eine unzureichende Antikörperantwort gegen Omikron. Im Vergleich zu den mRNA-Impfstoffen von Biontech und Moderna ist der Schutz vor tödlichen Covid-19-Verläufen weniger gut. Trotzdem verhindert chinesischer Stolz, die wirksameren Vakzine zum Schutz der eigenen Bevölkerung großflächig zu verimpfen. Dabei ist Chinas Gesundheitswesen in den Städten und noch viel weniger auf dem Land gegen einen hohen Krankenstand gerüstet. Betten, Ärzte, Medikamente, Beatmungsgeräte - es fehlt an allem.

Der Zeitpunkt der Öffnung offenbart die Angst vor sozialen Unruhen

Vor diesem Hintergrund möchte man Xi Jinping fragen: Ist das nicht Wahnsinn? Ein Umdenken in der chinesischen Corona-Politik hätte sich allerdings nicht viel länger hinauszögern lassen. Angesichts der kaum eindämmbaren Omikron-Variante, Chinas lahmender Wirtschaft sowie des zunehmenden Protests im Volk drohte der Partei die Situation zu entgleiten. Natürlich ergibt sich so für Xi Jinping die einmalige Chance, die Verantwortung für die absehbare Katastrophe an die Novemberprotestler zu verweisen.

Unter sehr zynischer Betrachtung könnte das Virus für Xi auch den demografischen Druck lindern, denn wie vielen anderen Gesellschaften droht auch der chinesischen die Überalterung. Er könnte sich zudem zur endzeitlichen Rettergestalt hochstilisieren lassen, wenn nach kalkuliertem Massensterben zum erlösenden Konzept totaler Corona-Überwachung zurückgekehrt wird. Und es könnte nach erfolgreicher Durchseuchung und damit obsolet werdender Isolierungspolitik eine neue Phase ungebremsten Wirtschaftswachstums beginnen.

Doch das Virus ist tückisch. Zum chinesischen Neujahrsfest 2020 genehmigten die Behörden in Wuhan am 18. Januar ein für 40.000 Familien ausgerichtetes Bankett. In dieser Stadt waren zuvor die ersten Fälle der neuen Krankheit aufgetaucht - doch davon wollten die Behörden sich das Neujahrsfest nicht verderben lassen. Es war wohl das erste Superspreader-Event für Covid-19, bevor China das Virus in die Welt entließ. Drei Jahre später kann ein Neujahrsfest erneut den Lauf der Welt verändern. Xi Jinping steht die Feuerprobe bevor.

Quelle: ntv.de

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