Politik

Linnemann zu neuen Grundsätzen "Zuerst kommt die Eigenverantwortung"

Linnemann beim CDU-Parteitag im vergangenen September in Hannover. Der Vize-Parteichef leitet die Programm- und Grundsatzkommission.

Linnemann beim CDU-Parteitag im vergangenen September in Hannover. Der Vize-Parteichef leitet die Programm- und Grundsatzkommission.

(Foto: IMAGO/Political-Moments)

Wofür steht eigentlich die CDU? Seit dem Ende der Ära Merkel arbeitet die Partei an einem neuen Grundsatzprogramm. Im kommenden Jahr soll es vorliegen. An diesem Donnerstag beginnt die erste Regionalkonferenz dazu, bis Ende dieses Monats folgen drei weitere in Münster, Schkeuditz bei Leipzig und Linstow (Mecklenburg-Vorpommern). CDU-Vize Carsten Linnemann leitet den Prozess. Im Interview sagt er, was die künftige CDU ausmachen soll, was wahre Solidarität ausmacht und welchen Einfluss die Konferenzen noch haben.

ntv.de: Herr Linnemann, diese Woche wird spannend für die CDU. In Pforzheim beginnt die erste von vier Regionalkonferenzen. Es geht um das neue Grundsatzprogramm. Was erhoffen Sie sich von diesen Ortsterminen?

Carsten Linnemann: Für einen Politiker ist immer ganz wichtig, dass man das Ohr an der Basis hat, also nah am Bürger ist. Das ist entscheidend für den politischen Erfolg. So eine Regionalkonferenz ist ein wichtiger Seismograf, um die Gewichtung der Themen festzustellen.

Wie groß ist in Berlin die Gefahr, dass man den Draht zur Basis verliert?

Als direkt gewählter Abgeordneter bin ich zum Glück viel im Wahlkreis unterwegs. Und in Berlin erreichen mich ja immer noch E-Mails und Telefon. Deswegen ist der Draht zur Basis immer da. Aber man muss ihn auch nutzen. Denn Berlin und der Wahlkreis sind komplett verschiedene Welten. In der Berliner Blase wird darüber geredet, ob die Partei nun nach rechts oder links rücken soll. Ob man einen starken oder einen superstarken Staat braucht. Wenn ich aus dieser Blase rausgehe, sagen mir die Bürger: "Das ist mir alles völlig egal, ich will, dass der Staat funktioniert."

Ich wollte Sie auch danach fragen, ob die CDU weiter nach rechts rückt.

Sehen Sie? Das fragt mich kein Bürger in meinem Wahlkreis. Die wollen wissen, wie wir die Inflation und das Fachkräfteproblem in den Griff kriegen, wie wir sicher leben und die Zukunft ihrer Kinder gesichert ist. Sie wollen trotzdem eine Antwort von mir, oder?

Dazu komme ich gleich noch. Fachkräftemangel ist aber ein gutes Stichwort. Eine Antwort darauf ist Zuwanderung. Die CDU ist dabei eher restriktiv. Kommt man da in einen Konflikt, wenn man an einem Grundsatzprogramm schreibt?

Nein, überhaupt nicht - im Gegenteil. Das Gute an einem Grundsatzprogramm ist, dass man sich das eigene Wertefundament bewusst macht und darauf aufbauend die Politikfelder beackert. Nehmen Sie das Jahr 2021. Da sind aus Drittländern rund 530.000 Menschen nach Deutschland gekommen. Davon kamen aber nur 40.000 zu Arbeitszwecken. Wir sind offenkundig interessanter für die Zuwanderung in die Sozialsysteme als in den Arbeitsmarkt. Das kann nicht so bleiben. Das bedeutet ja, dass wir bei dieser Quote 5 Millionen Zuwanderer bräuchten, um 400.000 in den Arbeitsmarkt zu bekommen. Das wird nicht funktionieren. Schon heute kommen wir mit unserer Infrastruktur an Grenzen. Zuwanderung muss insgesamt besser gesteuert werden. Der Zuzug von Fachkräften scheitert ja oft einfach an der praktischen Umsetzung.

Haben Sie ein Beispiel?

In meinem Wahlkreis hat mich ein vietnamesischer Restaurantbesitzer angesprochen, der einen Koch sucht. Er findet in Deutschland keinen, dafür aber in Vietnam. Doch der darf in Deutschland nicht arbeiten, weil die deutsche Botschaft in Vietnam gesehen hat, dass es auf der Speisekarte des Restaurants zu viele "paneuropäische" und thailändische Gerichte und zu wenig vietnamesische gibt. Wenn das die Realität in Deutschland ist, können wir einpacken.

Wie schlägt sich so ein Erlebnis im Grundsatzprogramm nieder?

Erstmal schlägt das voll auf mein Gemüt. Ich habe dann im Auswärtigen Amt angerufen und alle Hebel in Bewegung gesetzt, damit er doch noch kommen kann. Derzeit sieht es auch danach aus, dass es noch klappt. Ich wünsche mir in unseren Behörden insgesamt mehr Handeln nach gesundem Menschenverstand und weniger Paragrafen-Reiterei.

Das ist schön, aber welche Folgen hat das fürs Grundsatzprogramm?

Da geht es um eine Geisteshaltung, wie ein modernes Staatswesen beschaffen sein muss. Und da geht es um eine Migrationspolitik, die differenziert. An den konkreten Texten wird aber noch gearbeitet. Fertig ist hingegen eine Grundwertecharta, in der wir unser Wertefundament festgeschrieben haben. Die drei wichtigsten Punkte sind: Erstens, wir orientieren uns zuerst am Individuum und fahren nicht den kollektivistischen Ansatz, wie linke Parteien in Deutschland. Wir setzen also auf Chancengerechtigkeit statt auf Gleichmacherei. Zweitens, wir verstehen den Menschen als Teil eines größeren Systems, das er nicht vollständig überblicken kann. Als CDU macht uns das demütig und gleichzeitig gelassen. Denn wir können immer nur vorletzte Antworten geben.

Was meinen Sie mit der "vorletzten Antwort"?

Das, was wir heute wissen, kann morgen schon durch neues Wissen ergänzt oder sogar abgelöst werden. Politik ist also nie statisch und erst recht ist sie nicht allwissend. Daher kann Politik immer nur vorletzte Antworten geben. Deswegen ist uns beispielsweise auch Technologie-Offenheit so wichtig.

Und der dritte Punkt im Wertefundament?

Da geht es darum, dass wir Solidarität und Subsidiarität sauber trennen. Zuerst kommt die Eigenverantwortung, und wer die nicht wahrnehmen kann, für den ist die Gemeinschaft da. Wenn Sie diese drei Themen festzurren, können Sie das wie eine Schablone über fast jedes Thema legen. Deshalb möchte ich schon, dass wir bei den großen Themen konkrete Antworten finden. Wenn auch nicht bis in die siebte Futtermittelverordnung.

Was heißt das dann für den Arbeitsmarkt?

Ich bin dafür, dass wir das Bürgergeld in der jetzigen Form wieder abschaffen. Allein der Begriff ist irreführend, denn er suggeriert, dass es jedem automatisch zusteht. Ich würde grundsätzlich sagen, dass derjenige, der von der Solidargemeinschaft eine Leistung bekommt, auch eine Bringschuld hat. Vorausgesetzt natürlich, er ist körperlich dazu in der Lage. Das heißt, er muss auch eine Arbeit annehmen, wenn sie ihm angeboten wird. Ein anderes Beispiel ist meine Idee einer Aktivrente: Ich würde alle, die zwar im gesetzlichen Rentenalter sind, aber noch arbeiten wollen, bis zu einer Freigrenze steuerfrei arbeiten lassen. So würden wir von heute auf morgen Hunderttausende in den Arbeitsmarkt bekommen.

Nach 16 Jahren mit Angela Merkel an der Spitze gab es eine Sehnsucht in der CDU, das Profil zu schärfen. Auch deswegen arbeiten Sie am neuen Grundsatzprogramm. Deshalb nun doch die Frage: Wird die CDU jetzt wieder konservativer?

Genau das war das Problem, man wusste gar nicht mehr, wofür die CDU steht. Mein Anspruch an das Grundsatzprogramm ist, dass eine klare Erkennungsmelodie durchkommen muss, die auf den genannten Grundsätzen beruht. Zudem stehen wir zu unseren drei Wurzeln konservativ, liberal und christlich-sozial. Ich bin der Meinung, dass wir diese drei nicht gegeneinander ausspielen sollten.

Aber so, wie Sie sich jetzt geäußert haben, beim Bürgergeld, bei der Zuwanderung, das ist klar konservativ und nicht sozial. Da gibt es eine klare Gewichtung.

Schon allein diese Zuschreibung finde ich problematisch. Ist es tatsächlich sozial, Menschen, die arbeiten könnten, mit Sozialleistungen auszuhalten, während andere Menschen täglich schuften müssen, um diese Leistungen überhaupt zu ermöglichen? Aber lassen Sie mich ein anderes Beispiel nennen, das für unsere christlich-soziale Wurzel womöglich anschaulicher ist: Ich finde, in der Rente machen wir zu wenig für alle, die nicht mehr arbeiten können. Von der Rente mit 63 haben vor allem Menschen profitiert, die aus der Verwaltung kommen. Aber die, die hart malocht haben im Leben und aus körperlichen Gründen gar nicht mehr arbeiten können, bei denen war es anders. Nur zehn Prozent der Dachdecker stehen mit über 60 Jahren noch auf dem Dach.

Dann ist es de facto eine Rentenkürzung, das sagt auch die Linke.

Genau. Da anzusetzen, das wäre wichtig. Oder bei der Pflege. Die Menschen, die das ganze Leben arbeiten und nicht mehr wissen, ob sie sich Pflege leisten können. Im Moment haben wir Zuzahlungen, die bei rund 3000 Euro im Monat liegen. Da müssen wir genau die entlasten, die ihr ganzes Leben gearbeitet haben. Damit sie sich diese Sorgen nicht mehr machen müssen.

Es soll ein neues Gesetz für Transsexuelle geben, bei dem Minderjährige über 14 ohne Einverständnis ihrer Eltern ihre geschlechtliche Identität ändern können sollen. Erwachsene sollen das ohne Prüfung und Gutachten tun können. Diskriminierungen sollen abgebaut werden - gehen Sie da mit? Oder ist das zu liberal?

Diskriminierungen abzubauen, ist richtig. Mit dem, was die Ampel da vorgelegt hat, schießt sie jedoch weit übers Ziel hinaus. Das gilt vor allem mit Blick auf Kinder und Jugendliche. Dem Bundestag liegen Expertenmeinungen vor, die davor warnen, solche weitreichenden Entscheidungen Minderjährigen zu überlassen. Gerade in der Pubertät sind viele junge Menschen verunsichert und verletzlich. Wir dürfen nichts tun, was diese Unsicherheit noch weiter befeuert. Aber eins noch: Zu diesem Thema habe ich nicht eine Mail bekommen. Wir müssen aufpassen, dass in diesem Lande nicht Prioritäten gesetzt werden, die mit der Lebenswirklichkeit der Menschen wenig zu tun haben. Wozu ich aber sehr viele Mails bekomme, das ist der Paragraf 218, den die Ampel vollständig abschaffen will. Da wird die CDU dagegenhalten. Lebensschutz gehört zum C der CDU wie kaum ein anderes Thema.

Welche Rolle spielt das C, also der Verweis auf das Christentum noch? Die Kirchen haben immer weniger Zulauf.

Das C in der CDU hat mit der Kirche erst einmal nichts zu tun. Wir leiten aus dem C unsere Grundsätze ab, darunter das christliche Menschenbild, aber auch Werte wie Personalität, Subsidiarität und Solidarität, die wiederum aus der christlichen Soziallehre stammen.

Wenn es nur um Werte geht, braucht man dann überhaupt noch einen Gott?

Ich schon. Und sehr viele Mitglieder in der CDU werden genauso denken. Auf der anderen Seite sind in unserer Partei alle herzlich willkommen, die unsere Werte teilen.

In den USA gibt es Grabenkämpfe zwischen Konservativen und Linksliberalen, dabei gibt es oft große Aufregung um angeblich linke Ideologie, die alles Mögliche vorschreibe oder tabuisiere. In Deutschland wird emotional über das Gendern diskutiert. Wollen Sie da mitmischen? Oder setzen Sie da auch die Prioritäten anders?

Das Gender-Thema regt viele Menschen auf, weil sie das Gefühl haben, dass der Staat sie erziehen will. So einen Staat brauchen wir nicht. Ähnliches kennt man von der Debatte, ob man Lieder wie "Layla" auf öffentlichen Plätzen spielen darf, ob man sich noch als Indianer verkleiden oder Winnetou-Filme gucken darf. Der zweite Punkt in diesem Zusammenhang: In Deutschland wird zunehmend moralisiert. Dadurch wird die Meinungsfreiheit eingeschränkt.

Wie schwer ist es, das alles in ein Programm zu bekommen?

Die Koordinierung ist nicht ohne. Es bringt sich wirklich die komplette Breite der Gesellschaft ein. Das geht vom Zentralkomitee der Katholiken bis zu den Gewerkschaften. Es ist mein Ziel, dass wir hier wirklich frische Luft reinlassen und die Breite zu Wort kommen lassen. Es ist eine echte Herausforderung, das alles zusammenzufügen.

Und am Ende kommt ein Kompromiss heraus, den niemand gut findet?

Es geht weniger um einen Kompromiss als um klare politische Angebote der Marke "CDU". Ich will, dass am Ende alle sagen: Das, was im Grundsatzprogramm steht, will ich auch. Das trage ich mit. Und zwar unabhängig davon, ob einer bei der CDA engagiert ist oder bei der Mittelstandsunion, ob bei der Jungen Union oder der Senioren-Union. Das ist mein Anspruch.

Haben die Teilnehmer der Regionalkonferenzen noch eine Chance, ganz neue Punkte hereinzubringen?

Aber natürlich. Dafür sind die Regionalkonferenzen ja da. Bis Ende September, wenn die Positionen festgezurrt werden, kann noch einiges passieren.

Mit Carsten Linnemann sprach Volker Petersen

Quelle: ntv.de

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