Debatte gegen die Wand gefahren Die Impfpflicht ist tot - und sollte es bleiben
07.04.2022, 16:51 Uhr
Impfen bleibt eine freiwillige Entscheidung.
(Foto: picture alliance/dpa)
Es gibt gute Argumente für eine Impfpflicht, aber offenkundig nicht genügend. Mit der heutigen Niederlage der Impfpflicht-Befürworter sollte die Debatte dringend beerdigt werden, anstatt sich weiter zu verkämpfen.
Die Corona-Impfung schützt nicht davor, andere Menschen anzustecken. Die Corona-Impfung schützt Geimpfte mit hoher Wahrscheinlichkeit vor schwerer Erkrankung und Tod. Das gilt insbesondere für die über 60-Jährigen. Die haben zu 11 Prozent noch immer nicht von dieser wissenschaftlichen Wunderleistung Gebrauch gemacht, obwohl sie ein überproportional hohes Risiko einer Hospitalisierung tragen. Ältere Ungeimpfte könnten deshalb bei einer Pandemie-Welle im Herbst erneut das Gesundheitssystem übermäßig belasten und so abermalige Corona-Schutzmaßnahmen nötig werden. Dennoch sollte das Thema Impfpflicht mit dem heutigen Scheitern im Bundestag beerdigt werden.
Nicht einmal 300 von mehr als 680 abstimmenden Abgeordneten haben für den Gesetzentwurf gestimmt. Dabei bräuchte ein so tiefgreifender Grundrechtseingriff nicht nur eine knappe, sondern eine möglichst breite Mehrheit, um Akzeptanz in der Bevölkerung zu finden. Möglichst viele der fast 40 Prozent der Bevölkerung, die laut Forsa eine Impfpflicht ablehnen, gilt es ins Boot zu holen. Das geht aber nicht, wenn auch zahlreiche Volksvertreter begründete Zweifel an Verhältnismäßigkeit und Umsetzbarkeit der Impfpflicht hegen. Jenseits aller Verfahrensfragen gilt: Den Impfpflicht-Befürwortern ist es in einer vier Monate langen Debatte nicht gelungen, über das eigene Lager hinaus zusätzlich Abgeordnete zu überzeugen.
Wachsende Zweifel
Im Gegenteil: Je mehr sich die Abgeordneten mit dem Thema befasst haben, desto größer wurde die Skepsis. Immer mehr SPD- und Grünen-Abgeordnete haben die von Bundeskanzler Olaf Scholz und Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach vehement geforderte Impfpflicht ab 18 Jahren abgelehnt. Stattdessen wuchs die Gruppe um den FDP-Abgeordneten Andrew Ullmann und der Grünen Paula Piechotta, die eine Beratungspflicht für alle Ungeimpften und eine Impfpflicht ab 50 Jahren wollten. Dieser maßvolle Ansatz scheiterte wiederum an der Skepsis der Union, eine Impfpflicht präventiv scharf zuschalten, ohne das genaue Pandemiegeschehen im kommenden Herbst absehen zu können.
Parteitaktisches Kalkül hat in den Reihen von CDU und CSU erkennbar eine Rolle gespielt, aber sie haben einen Punkt: Es gibt bei allen wissenschaftlichen Wahrscheinlichkeiten eine Restunsicherheit zum weiteren Verlauf der Pandemie. So etwas wie die Omikron-Variante war auch nicht vorhergesehen worden, als von Regierung und Wissenschaft noch vor einem Jahr ein Ende der Pandemie allein durchs Impfen versprochen wurde. Wer will da behaupten, er oder sie wüsste, was im Herbst auf uns zukommt?
Beratungspflicht und Impfstrukturen retten
Nachdem das Antragsverfahren die Abgeordneten in den vergangenen Wochen viel Energie und Kapazitäten gekostet hat - auch wegen Scholz' politischer Fehlkalkulationen - sollte sich der Bundestag nicht in einem erneuten Anlauf verkämpfen. Zumal die Stimmung zwischen Union und Ampelparteien nach dieser von persönlichen Anwürfen geprägten Bundestagsdebatte reichlich vergiftet sein dürfte.
Vielmehr sollten sich alle Beteiligten auf die Aspekte konzentrieren, die im Rahmen der Impfpflicht-Debatte ebenfalls diskutiert wurden, aber weit weniger polarisieren: verpflichtende Beratungstermine, um die Impfskeptiker nicht mit den dubiosen "Informationen" irgendwelcher Telegram-Gruppen und Youtube-Gurus allein zu lassen. Und es muss alles getan werden, um die Impf- und Teststrukturen so aufrechtzuerhalten, damit sie zur Verfügung stehen, wenn sich die Lage wieder verschlechtern sollte und die (impfwilligen) Menschen womöglich an neue Varianten angepasste Impfungen brauchen.
Quelle: ntv.de