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Deutschland entdeckt die NFLAls ein Jahrhundert-Fehlpass Brady krönt und Seattle stürzt

15.09.2024, 07:56 Uhr
imageVon Florian Papenfuhs
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Die Seattle Seahawks und die New England Patriots sind lange die Aushängeschilder des NFL-Booms in Deutschland. Am Wochenende treffen sie wieder einmal aufeinander, doch im kollektiven Gedächtnis wird kein Duell mehr größer werden als der Super Bowl 2015 -wegen nur eines einzigen Spielzugs.

Der Super Bowl des Jahres 2014 zwischen den Denver Broncos und den Seattle Seahawks ist ein merkwürdiges Spiel. Football entwickelt sich in Deutschland langsam aber sicher zu einem Massenphänomen. Die Sportart hat ein Momentum, das rund 1,3 Millionen Deutsche vor den Fernseher lockt, der unchristlichen Zeit zum Trotz. Ein beachtlicher Sprung, im vergangenen Jahr waren es knapp 900.000 Zuschauer. Nicht wenige unter ihnen dürften enttäuscht gewesen sein.

Die Broncos zerfallen in ihre Einzelteile. Als Denver zum ersten Mal auf das Scoreboard kommt, ist das dritte Viertel soeben abgelaufen und die Seahawks haben bereits 36 Punkte erzielt. Am Ende steht eine vernichtende 8:43-Niederlage. Viele der neuen deutschen Zuschauer fragen sich, warum Denver ihren legendären Quarterback Peyton Manning, der an dem Abend zwei Interceptions wirft, nicht einfach auswechselt. Doch klar ist auch: Viele interessierte Beobachter sehen entfesselnd aufspielende Seahawks. Besonders die Defensive, die "Legion of Boom" beeindruckt.

"In der zweiten Halbzeit reiße ich ihnen den Arsch auf"

Die neuen Football-Anhänger sollten sehr bald entschädigt werden. Nach der überschaubar spannenden Vorstellungsrunde beim deutschen Millionenpublikum liefert das NFL-Endspiel ein Jahr später beste Werbung für den Football. Wieder dabei: die Seattle Seahawks. Der Gegner diesmal: Die New England Patriots, dessen Quarterback Tom Brady - mindestens mal durch die Verbindung zu Gisele Bündchen - auch in Deutschland an Popularität gewinnt. Wieder schauen 1,3 Millionen Menschen zu, und schildern am nächsten Tag im Büro (sofern vor Ort) eine Nacht für die Geschichtsbücher. Die beste Defensive der Liga (Seattle) und die beste Offensive der Liga (New England) liefern sich einen äußerst unterhaltsamen Schlagabtausch. Zur Halbzeit steht es diesmal nicht 22:0. Stattdessen gleicht Seattle mit nur zwei Sekunden auf der Uhr kurz vor dem Pausenpfiff zum 14:14 aus. Tom Brady kündigt an: "In der zweiten Halbzeit reiße ich denen den Arsch auf."

Der größte Quarterback aller Zeiten wird erstmal eines Besseren belehrt, ein Field Goal und einen Touchdown später führen die Seahawks plötzlich mit zehn Punkten. Die Defensive der Patriots bekommt Running Back Marshawn Lynch, genannt "Beast Mode", so überhaupt nicht in den Griff. Der medienscheue Profi sorgt bereits vor dem großen Spiel für Aufsehen, als er auf einer Pressekonferenz auf ausnahmslos jede Frage der Journalisten "Ich bin nur hier, damit ich keine Strafe zahlen muss" antwortet. Erst im vierten Viertel schlägt der ewige Tom Brady, der damals noch Rekorde egalisierte, statt sie neu zu schreiben, zurück. Zwei Touchdowns beschert der "GOAT" seinen Patriots und muss doch noch bangen. Die Seahawks bekommen mit zwei Minuten auf der Uhr noch einmal den Ball.

Unter den folgenden Spielzügen der Seahwaks ist ein völlig surrealer Pass auf Receiver Jermaine Kearse. Der Ball wird auf dem Weg zum Receiver abgefälscht, dann rutscht das Spielgerät Kearse mehrmals durch die Finger, ehe er ihn, mittlerweile auf dem Rücken liegend, doch noch fängt. Eine aberwitzige Szene, über die heut niemand mehr spricht. Denn kurz darauf passiert Football-Geschichte.

"Ich kann diese Entscheidung nicht glauben"

Die Seattle Seahawks sind ein Yard vom Touchdown entfernt - und somit dem zweiten Super-Bowl-Sieg in zwei Jahren. Das gesamte Stadion weiß, was gleich passieren wird. Seahawks-Quarterback Russell Wilson drückt das Ei Marshawn Lynch in die Hand, der hüpft beherzt nach vorne. Touchdown. Spielende. Konfetti.

Doch mit einer eigenartigen Selbstverständlichkeit feuert Wilson den Ball in die Endzone zu Patriots-Verteidiger Malcolm Butler. Die Patriots haben den Ball, das Spiel ist verloren. Es ist der erste Fehlpass Wilsons im gesamten Spiel. Ein ungläubiger Tom Brady springt am Spielfeldrand auf und ab. "Es tut mir leid, aber ich kann diese Entscheidung nicht glauben. Ich kann die Entscheidung nicht glauben. Du hast Marshawn Lynch im Backfield. Einen Kerl, der in dieser Zone nahezu unaufhaltbar ist. Ich kann diese Entscheidung nicht glauben", fasst NBC-Analyst Chris Collinsworth zusammen, was über 100 Millionen Zuschauer weltweit denken.

Die Entscheidung von Seahawks-Coach Pete Carroll, den Ball eben nicht Marshawn Lynch zu geben, wird zum Gesprächsthema Nummer 1 im Land. Deion Sanders, Hall of Famer, ehemaliger Super Bowl Sieger und heute sehr erfolgreicher Coach am College, nennt den Pass in die Endzone damals einen der schlechtesten Spielzüge aller Zeiten. Für Running-Back-Legende Emmitt Smith ist er gar der schlechteste überhaupt.

Größter Defensivspielzug der Geschichte

Sebastian Vollmer, der damals als Teil der New England Patriots seinen ersten Super Bowl gewinnt, ist von der Entscheidung gegen Lynch ebenfalls sehr überrascht. "Unsere Defense konnte Marshawn Lynch eben nicht stoppen und wenn du dann kurz vor der Endzone stehst und deinem besten Spieler, der das ganze Spiel über abgeliefert hat, nicht das Vertrauen gibst zu sagen: 'Hey, lauf das Ding rein!' ist das schwer zu verstehen."

Andere Experten verteidigen den Spielzug oder loben die gute Reaktion von Malcolm Butler. Bis heute hat sich die Szene als "The Interception" ins kollektive Gedächtnis des American Footballs gebrannt. Als die immerhin auch schon seit 1920 bestehende NFL die 100 größten Spielzüge ihrer Geschichte auflistet, landet Butlers Fang auf Platz fünf, keine Defensivaktion ist höher bewertet worden. In der Liste der 100 größten Partien der Liga-Geschichte rangiert das Spiel auf Platz acht.

Die Partie fällt in Deutschland auf den fruchtbaren Boden des NFL-Hypes. Im Folgejahr schlagen sich zum Super Bowl 1,7 Millionen Menschen die Nacht um die Ohren. Bis heute stellen die Seattle Seahawks und die New England Patriots zwei der größten Fanbases in Deutschland. Wenn die beiden Lager das Duell am Sonntag (19 Uhr auf RTL und im ntv.de-Liveticker) einschalten, ist vom Glanz vergangener Jahre nicht mehr allzu viel übrig. Keine der prägenden Figuren des Finals ist heute noch an Ort und Stelle.

Der Absturz nach Brady

Tom Brady, der keineswegs problemlos durch den Super Bowl 2015 kommt, wird letzten Endes zum MVP der Partie gewählt und arbeitet im Anschluss erfolgreich am eigenen Monument. Er gewinnt noch zwei weitere Super Bowls mit den Patriots und verlässt die Franchise 2019. Wenig überraschend kann New England ihn bis heute nicht ersetzen. Cam Newton will als sein direkter Nachfolger so gar nicht funktionieren, danach übernimmt für drei Jahre Mac Jones. Seit diesem Sommer wirft Jacoby Brissett die Bälle in New England. Nach Brady wird es still um die Patriots. 2021 hängt auch Malcolm Butler die Schuhe an den Nagel, seitdem gelang den Patriots kein Playoff-Einzug mehr.

Seattle erwischt es noch deutlich härter. Für die Seahawks bleibt die bittere Niederlage gegen New England bis heute die letzte Teilnahme an einem Super Bowl. 2015 verlässt Running-Back-Wunder Marshawn Lynch den Klub, 2018 bricht die "Legion of Boom" endgültig auseinander. Russell Wilson wird 2021 an Denver abgegeben und erreicht nie wieder die Qualität aus seinen ersten Jahren in Seattle. 2023 verlässt Coaching-Urgestein Bill Belichick New England, im Sommer dieses Jahres nimmt auch Trainerkollege Pete Carroll in Seattle seinen Hut.

2016 und 2020 treffen die Teams noch einmal aufeinander, beide Spiele gewinnt Seattle. Vor dem Aufeinandertreffen in diesem Jahr haben beide Teams überraschend das Auftaktmatch gewinnen können. Einer der beiden wird die Saisonbilanz also sogar auf 2-0 stellen können. Dennoch scheint klar, dass weder die Patriots, noch die Seahawks, etwas mit dem Titel zu tun haben werden.

Und doch geht immerhin eine Erfolgsgeschichte weiter. 2024 sehen 2,12 Millionen Menschen auf RTL den Super Bowl - Rekord. Die denkwürdige Nacht des zweiten Februar 2015 hat hierzulande etliche Fans auf ewig für den Sport begeistern können. "The Interception" war nicht nur eines der besten NFL-Endspiele ihrer Geschichte, sondern ist auch bis heute ein Fundament der deutschen Football-Begeisterung - einer einzigen Fehlentscheidung sei Dank.

Quelle: ntv.de

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