Xabi Alonso eskaliert vor Glück Ein Monster, das den FC Bayern sorgen muss
07.02.2024, 07:06 Uhr
Die Erleichterung nach dem Spektakel muss raus bei Bayer-Coach Xabi Alonso.
(Foto: REUTERS)
Bayer 04 Leverkusen steht im Halbfinale des DFB-Pokals. Der Weg dorthin führt über 90 mitreißende Minuten gegen den VfB Stuttgart. Trainer Xabi Alonso kann sein Glück kaum fassen und umschifft eine heikle Frage geschickt.
Sprachlich ging es bei Xabi Alonso am späten Dienstagabend drunter und drüber. Ohne "control" und "stability" hätte seine Mannschaft dieses Spiel bestritten. Dafür aber mit "heart" und "soul". Der Trainer klopfte sich dabei auf das eigene Herz und sprach die Worte auf Deutsch, ein bisschen auf Englisch und mit seinem charmanten spanischen Akzent aus. Er hatte sich völlig verausgabt und kratzte seine letzte Kraft für die Analyse zusammen.
Das alles war so unorganisiert, durcheinander und authentisch, wie das dritte von vier Viertelfinalduellen im DFB-Pokal zuvor gewesen war. Seine Mannschaft, Bayer 04 Leverkusen heißt sie, hatte den VfB Stuttgart in 90 Minuten aus dem Wettbewerb gerungen. Jedoch nicht, ohne die Fußball-Nation in seinen Bann zu ziehen. Und nicht ohne Drama. In der letzten Minute köpfte Nationalspieler Jonathan Tah den Ball zum Sieg ein (90.). Mit 3:2 war zu Ende gegangen, was alle Beteiligten ans Limit getrieben hatte.
Vor allem Xabi Alonso, der sich "leer" im Kopf fühlte, als die Nacht kurz davor war, vom Dienstag in den Mittwoch zu kippen. Den wolle er, so sagte der Spanier, nutzen, um Kraft zu tanken. Schließlich kommt am Samstag der Gigant FC Bayern in die Bayarena (18.30 Uhr bei Sky und im Liveticker bei ntv.de). Zwar wird in diesem Spiel nicht die Meisterschaft entschieden, aber zumindest emotional vorverhandelt, wer in dieser Saison den Titel einfahren kann. Die Bayer-Elf hat beste Aussichten auf die Schale, noch immer ist sie ohne Niederlage und schraubte ihre Serie gegen die Schwaben auf 30 unbesiegte Spiele nacheinander. Das ist phänomenal. Und natürlich längst kein Zufall mehr. In Leverkusen merken sie immer mehr, dass da etwas ganz Großes im Heranwachsen ist. Dank Xabi Alonso. Er hat ein (Mentalitäts)-Monster erschaffen. Eines, das sich nicht verrückt machen lässt, die innere Ruhe und Überzeugung hat, dass die Dinge gut werden. Und das nun vor seiner bisher größten Prüfung steht.
Guardiola-Vibes an der A3
Tore: 0:1 Anton (11.), 1:1 Andrich (50.), 1:2 Führich (58.), 2:2 Adli (66.), 3:2 Tah (90.)
Leverkusen: Kovar - Tapsoba, Tah, Hincapie - Frimpong (90. Stanisic), Xhaka, Andrich, Grimaldo - Hofmann (64. Adli), Wirtz (90. Hlozek)- Schick (64. Iglesias). - Trainer: Alonso.
Stuttgart: Nübel - Ito, Anton, Rouault - Vagnoman, Karazor, Stiller, Mittelstädt (70. Stergiou) - Millot (62. Leweling), Führich (79. Dahoud) - Undav. - Trainer: Hoeneß
Schiedsrichter: Daniel Schlager (Hügelsheim)
Zuschauer: 30.210 (ausverkauft)
Der Spanier hat den Verein komplett für sich erobert. Unter dem Bayer-Kreuz spüren sie Josep-Guardiola-Vibes. Das ist zwar eine große Referenz, aber nicht allzu weit hergeholt. Weil Xabi Alonso eben auch eine große Aura hat, eine weltmännische. Und eine prägende Spielidee. Längst wird sein Name bei den großen Giganten gehandelt. Beim FC Bayern (in einer ferneren Zukunft), beim FC Liverpool, die im Sommer einen charismatischen Erben für Jürgen Klopp brauchen und bei Real Madrid. Bei jenen drei Vereinen, in denen er selbst als Anführer vorangegangen war und seine Weltklasse als Dirigent auf den Platz gebracht hatte. Leverkusen, das ahnen sie dort, dürfte schnell zu klein werden, für diesen Trainer. Ebenso für einige Spieler, die am Markt große Begehrlichkeiten wecken. Dieses Szenario wiederum eint sie mit dem VfB. Aber mit den großen Gedankenspielen mag sich Xabi Alonso (noch) nicht beschäftigen. Nie. Er denkt - und das klingt fürchterlich langweilig - von Spiel zu Spiel. Aber diese Floskel füllt sich in Leverkusen mit Leben. Dass etwa der FC Bayern bereits anklopft und leise stichelt, das war in den Köpfen der Bayer-Spieler nicht verhaftet.
Und schon gar nicht in dem des Trainers, der das Spiel wie ein eingesperrter Tiger verfolgte. Auf und ab lief er in seiner Coaching-Zone. Dirigierte, schrie, pfiff, schob Frust, freute sich - und eskalierte. Nach einem wilden Ritt durch das gesamte Spektrum der Emotionen jubelte er wie von Sinnen. Er riss die Arme nach oben, nahm in den Arm, was ihm auf dem Feld entgegenkam, sprang in die Luft, winkte und verteilte Luftküsschen. Hier denkt und lebt ein Mensch tatsächlich von Spiel zu Spiel. Und er hat diesen Geist in seiner Mannschaft tief verankert.
Mit dem VfB Stuttgart hatte diese vor über 30.000 Zuschauern schließlich genug zu tun gehabt. Das Spiel nahm mit Anpfiff den dröhnenden Beat von AC/DCs "Hells Bells" an. Volle Lotte von Beginn an. Die Gäste rannten die Gastgeber mit einer Intensität und einem Tempo an, als wollten sie sie auffressen. So hoch und mutig hatte hier lange keine Mannschaft mehr agiert. Später befand Xabi Alonso, dass der "VfB die bisher beste Mannschaft war, die in dieser Saison in Bayarena zu Gast war". Die Schaltzentrale um Granit Xhaka und Robert Andrich hatte in den ersten 30 Minuten reichlich Mühe, die richtigen Gänge zu finden. Der hochtourig rasende Bayer-Bolide, der seit der letzten Pflichtspielpleite, am 27. Mai 2023 im Bochumer Ruhrstadion, mit Lichthupe über die linke Spur in allen Wettbewerben donnert, lag folglich früh zurück. Waldemar Anton war dem unaufmerksamen Verteidiger Edmond Tapsoba entwischt und köpfte zum 1:0 für den VfB ein.
Andrichs Einsteigen sorgt für Ärger
Der Dunst der Pyroshow der eigenen Fans hatte Bayer den Blick auf das klare Spiel vernebelt. Bis kurz vor der Pause fanden die Gastgeber kaum Lösungen gegen das variable und aggressive Pressing der Stuttgarter und deren Versuche, Stürmer Deniz Undav steil zu schicken. Der Sensationsangreifer, den es im März wohl erstmals in die deutsche Nationalmannschaft spült, war von Tah abgemeldet. In herrlichen Duellen arbeiteten sich der Hüne (Tah) und der Kämpfer (Undav) hart aneinander ab. Griechisch-römisches Ringen, im erlaubten Rahmen. Der nach Punkte unterlegene Stuttgarter urteilte später, dass sich hier die "beiden besten Mannschaften der Liga" gegenübergestanden hätten. Die beiden Trainer wollten das so nicht unterschreiben. VfB-Coach Sebastian Hoeneß erinnerte an den FC Bayern, wollte sich aber gerne darauf verständigen, dass die Kontrahenten frech und mutig spielen, dass sie Spaß machen. Xabi Alonso drückte es noch diplomatischer aus: "Ich weiß es nicht", säuselte er dahin, die Leute lachten.
Nur Hoeneß nicht. Der war genervt. Nicht nur wegen der Niederlage, sondern auch wegen Andrich. Der hatte in der ersten Hälfte hart zugelangt. Gleich doppelt. Einmal sah er Gelb (gegen Atakan Karazor), einmal nicht (gegen Enzo Millot). Der Gäste-Coach ahnte, dass das Spiel dann in eine andere Richtung, in seine, gekippt wäre. Doch Andrich blieb und schlenzte Bayer nach dem Wiederanpfiff traumhaft zurück in dieses Duell, das nun noch mitreißender und intensiver wurde. Der Trainer, verriet Andrich, habe die Mannschaft ermahnt, "nicht verrückt zu werden. Er hat gesagt, dass wir nicht in fünf Minuten die Welt erobern müssen. Sondern dass wir 45 Minuten Zeit haben für ein 1:1." Vorschlag abgelehnt, es wurde ein Eroberungszug. Bereits nach 55 Minuten herrschte das Gefühl vor, dass die Visiere bis zum Anschlag hochgeklappt waren. Alonso hatte seinen Mantel abgelegt, stand im dünnen Pullover an der Seite und lief auf Hochtouren. Immer passierte etwas, auf das reagieren musste. Dieses Spiel stand niemals still. Hoeneß dagegen blieb dick eingepackt, aber nicht weniger unter Strom.
Beide Mannschaften hatten die ganz große Lust an diesem Duell entwickelt. Die Lust am Passspiel, an der Intensität und der immer guten Idee, sie rissen die Fans überall mit. Ein Viertelfinale kann auch ohne den FC Bayern, den BVB oder die Wettbewerbs-Riese RB Leipzig und Eintracht Frankfurt packend sein. Kein Gebolze, immer die spielerische Lösung. Auch auf kleinstem Raum, am eigenen Strafraum. In den sozialen Netzwerken wurden die Protagonisten wild abgefeiert. Und wie sie alle hießen: Tah, das große Zweikampfmonster, das den Siegtreffer mit voller Überzeugung und Gier herbeiwuchtete. Florian Wirtz, der den Ball so zart behandelt, dass der vor Genuss dahinschmelzen will. Xhaka, der unerschütterliche Zenturio im Mittelfeld. Oder der omnipräsente Andrich, der die Herrschaft im Mittelfeld immer mehr an sich gezogen hatte.
"Es fühlt sich brutal gut an"
Doch auch Stuttgart hat diese Spieler, die für die dicken Rollen taugen. Anton etwa, der Torschütze, der auch als Abwehrchef abermals so stark spielte, dass er aus den Nationalmannschaftsdebatten kaum noch herauszuhalten ist. Ebenso wie Undav, auch wenn er dieses Mal blass blieb. Ebenso Chris Führich, der die Kunst der Einfachheit beherrscht, aber auch die Wucht der Überzeugung. So wie beim 2:1 (58.), als er den Ball unter Druck souverän in die Ecke pfefferte. Der nicht gänzlich souveräne Pokal-Keeper Matěj Kovář war machtlos, allerdings hatte er zuvor Andrich mit einem Zuspiel ins Zentrum, das dieser vertändelte, schon unter unnötigen Stress gesetzt. Kovář hatte seine beste Szene, als er in der 63. Minute einen langen Abwurf so überragend zu Wirtz brachte, dass der alleine losstürmen konnte. Das Supertalent zögerte, schlenkerte einmal zu viel und vergab. Anders als Amine Adli, der in der 66. Minute einen Gegenspieler abschüttelte und den Stuttgarter Alexander Nübel überwand, der sich indes etwas unentschlossen im Stellungsspiel verloren hatte, 2:2. Atempause? Volle Lotte. Und dann stand Tah da, 3:2.
"Es fühlt sich brutal gut an. Gerade in so einem Spiel gegen so einen Gegner, der uns sehr große Probleme bereitet hat. Das gibt uns viel Energie und positive Hoffnung für alles, was jetzt noch kommt", sagte Tah im Anschluss in der ARD. Ein paar Meter lauschte der völlig geschaffte Klubchef Fernando Carro mit einem Kölsch in der Hand. Er lächelte. Er weiß um das Große, das hier entstanden ist. Und das nun vom nicht immer souveränen FC Bayern auf Herz und Nieren getestet wird. Im hochgejazzten Titelduell am Samstagabend. "Stell dir mal vor", sagte einer in den Katakomben der Arena, "Bayer holt jetzt wirklich das Double. Und spielt dann noch in der Europa League gegen den FC Liverpool." Gegen Klopp, als dessen Erbe Xabi Alonso an der legendären Anfield Road gehandelt wird. Aber gemach, es ging auch so schon alles drunter und drüber. Pause.
Quelle: ntv.de