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Ökonomin kritisiert Reformpläne Wer profitiert von der "populistischen Scheindebatte" um Rente und Bürgergeld?

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Die Kosten für Bürgergeld sind im Verhältnis zur deutschen Wirtschaftsleistung sogar leicht gesunken.

Die Kosten für Bürgergeld sind im Verhältnis zur deutschen Wirtschaftsleistung sogar leicht gesunken.

(Foto: picture alliance/dpa)

Die Politik debattiert hitzig über Bürgergeld und Rente - unter völlig falschen Voraussetzungen, sagt die Ökonomin Katja Rietzler. Die Belastung durch diese Sozialausgaben sei nicht gestiegen. Für die Milliardenlöcher im Bundeshaushalt sei die Regierung selbst verantwortlich.

Die Politik debattiert hitzig über einen angeblichen Reformbedarf bei Bürgergeld und Rente - unter völlig falschen Voraussetzungen, sagt die Ökonomin und Haushaltsexpertin Katja Rietzler vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung im Gespräch mit ntv.de. Die Belastung durch diese Sozialausgaben sei nicht gestiegen. Für die gigantischen Löcher im Bundeshaushalt sei die Regierung selbst verantwortlich.

ntv.de: Sie haben sich angeschaut, wie hoch die Ausgaben für dieses Sozialsystem sind, das wir uns nach Meinung des Bundeskanzlers nicht mehr leisten können, und wie sie sich entwickelt haben. Wie sind Sie vorgegangen?

Katja Rietzler: Auf Grundlage der Zahlen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales haben wir noch einmal alles ausgerechnet: Was fließt in die Sozialversicherungen, Arbeitgebersysteme wie beispielsweise Entgeltfortzahlung, aber auch in private Systeme, soweit diese verpflichtend sind? Dazu kommen unter anderem Bürgergeld, aber auch Familienleistungen und anderes. Das alles zusammen - das Arbeitsministerium nennt das das "Sozialbudget" - haben wir ins Verhältnis zur deutschen Wirtschaftsleistung gesetzt, also in Prozent des Bruttoinlandsprodukts, und auch betrachtet, wie sich diese Quote im Zeitablauf verändert hat. Heraus kam, dass sich die Ausgaben für alle Sozialsysteme zusammen auf zuletzt 31 Prozent des Bruttoinlandsprodukts belaufen.

Die Ökonomin Katja Rietzler leitet das Referat Steuer- und Finanzpolitik des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Hans-Böckler-Stiftung.

Die Ökonomin Katja Rietzler leitet das Referat Steuer- und Finanzpolitik des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Hans-Böckler-Stiftung.

(Foto: imago/Jürgen Heinrich)

Ist diese Quote stark gestiegen?

Seit 2010 ist diese Quote um 1,6 Prozentpunkte gestiegen. 0,6 davon gehen auf den Bereich Jugendhilfe im weiteren Sinne zurück, und da steckt auch der Kitaausbau drin, der ja politisch gewollt ist - unter anderem, damit Eltern arbeiten gehen können und wiederum das Bruttoinlandsprodukt erhöhen. Spürbare Anstiege sehen wir bei Gesundheit und Pflege.

Was stellen Sie da fest?

Die Ausgaben der sozialen Pflegeversicherung sind von 0,8 auf 1,5 Prozent des BIP angestiegen. Die Gesundheitsausgaben in Prozent der Wirtschaftsleistung sind dabei seit 2010 nicht nur um 0,9 Prozentpunkte gestiegen. Auffällig ist, dass sie auch im internationalen Vergleich sehr hoch sind, während die Ergebnisse im Hinblick auf den Gesundheitszustand der Bevölkerung oder die Lebenserwartung laut Analysen der OECD eher mittelmäßig sind.

Im Zentrum der politischen Debatte steht vor allem das Bürgergeld, das nun reformiert werden soll.

Erstaunlicherweise sind die Ausgaben für das Bürgergeld 2024 im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt gegenüber 2010 sogar leicht zurückgegangen - und das, obwohl viele Geflüchtete aus der Ukraine und von anderswo nach Deutschland gekommen sind und teils Bürgergeld beziehen.

Wie sieht es mit der Rente aus? Dort wird ja aktuell von vielen Seiten auch dringender Reformbedarf angemeldet angesichts des demografischen Wandels.

Die Zahl der Rentner steigt zwar, aber die Reformen von 2005 haben sich schon ausgewirkt. Die Ausgabenquote für die Rente ist heute niedriger als in den frühen Zweitausendern. Auch der Beitragssatz zur Rente war schon einmal 1,3 Prozentpunkte höher als heute. Die Lage bei der Rente sehe ich aktuell nicht als dramatisch.

Heißt das, dass es gar keinen Reformbedarf gibt bei der Rente?

Wenn jetzt meine Generation - ich habe noch sieben Jahre bis zur Altersgrenze - in Rente geht, wird da ein bisschen was passieren. Die Frage ist, wie wir vorgehen, um die Rente zu stabilisieren. Indem wir das Rentenniveau senken? Dann bekommen wir Armutsprobleme. Sollten wir nicht doch höhere Beiträge in einem gewissen Umfang akzeptieren? Wir hatten ja, wie gesagt, schon einmal deutlich höhere Rentenbeiträge. Der Anteil älterer Menschen steigt nun einmal. Wenn wir trotzdem wollen, dass die Rentenbeitragszahlungen relativ zum BIP sehr langfristig konstant bleiben, dann heißt das, dass die große Gruppe der Rentner nicht mehr an der Steigerung des Lebensstandards partizipiert. Wer das möchte, der sollte es aber auch laut sagen: "Wir wollen die Rentner abhängen".

Die aktuelle Diskussion findet auch vor dem Hintergrund gewaltiger Haushaltslöcher statt, die sich in den kommenden Jahren auftun. Selbst wenn die Belastung durch die Sozialausgaben gar nicht stark gestiegen ist: Können wir uns einfach nicht mehr dasselbe Ausgabenniveau leisten wie in der Vergangenheit?

Das ist eine sehr widersprüchliche Argumentation, gerade vonseiten der Bundesregierung. Die packt einerseits gerade fünf Milliarden Euro zusätzlich auf die Sozialausgaben drauf mit der Mütterrente. Und dann heißt es: Oh, wir können uns das nicht alles leisten. Meine klare Empfehlung ist: Die Mütterrente, die für die Betroffenen ohnehin keinen großen Unterschied macht, sein lassen. Dann hat man schon mal fünf Milliarden Euro eingespart, und zwar ganz easy.

Stattdessen hat sich die Koalition vorgenommen, vor allem beim Bürgergeld große Beträge rauszuholen.

Da wird eine populistische Scheindebatte geführt, etwa wenn es um die Totalverweigerer geht. Ich habe gelesen, deren Zahl wird auf weniger als 100 geschätzt. Und auch die Problematik mit organisierten Banden, die Menschen aus Südosteuropa in Schrottimmobilien unterbringen und betrügerisch Bürgergeld als Aufstockung angeblicher Minijobs beziehen: Solche kriminellen Aktivitäten muss man natürlich angehen. Aber das bringt keine Milliardeneinsparungen. Insgesamt wird der Druck erhöht auf Menschen, die es angesichts eines sich verschlechternden Arbeitsmarktes gleichzeitig schwerer haben, überhaupt Jobangebote zu finden. An die großen Kostensteigerungen bei der Kranken- und Pflegeversicherung geht die Bundesregierung nicht ran. Die ganze Debatte ist schon ein bisschen absurd.

Die Gesundheitsministerin hat jetzt Vorschläge gemacht, die zu Einsparungen von rund zwei Milliarden Euro bei den Krankenkassen führen sollen.

Das will ich nicht kritisieren. Ich bezweifle aber, ob das gründlich überlegt ist und ob das reicht. Da muss man tiefgreifender herangehen und wirklich die Strukturen untersuchen, wo sinnvoll gespart werden kann, ohne die Gesundheitsversorgung zu verschlechtern.

Warum wird diese politische Debatte auf diese, wie Sie sagen, absurde Weise geführt, und wie geht es besser?

Es stellt sich die Frage: Wer profitiert davon, dass bestimmte Bereiche nicht im Fokus der Debatte stehen? Möglicherweise will man bestimmten Interessengruppen nicht an den Karren fahren. Ich würde einfach sagen: Man muss die Zahlen anschauen. Dann weiß man, wo das Problem liegt und wo das Problem nicht liegt.

Wie meinen Sie das?

Die Politik redet über die Rente, wo wir in der nahen Zukunft zumindest keine großen Probleme haben, und sie redet über das Bürgergeld, wo wir gar kein Kostenproblem haben. Das Hauptproblem ist doch, dass die deutsche Wirtschaft seit fast sechs Jahren nicht wächst. Das ist doch, wo die Politik ansetzen muss, indem sie sich auf die wesentlichen Aufgaben konzentriert: die Infrastruktur auf Vordermann bringen und auch mal überlegen, was das deutsche Geschäftsmodell in der Zukunft ist, und Planungssicherheit schaffen. Stattdessen reißt sie, auch mit der Senkung der Körperschaftssteuer, gewaltige Löcher in den Haushalt, ohne dass das Wirtschaftswachstum spürbar anschiebt.

Gestopft werden sollen diese Löcher nun durch Sozialkürzungen?

Ja, das ist verteilungspolitisch hochproblematisch. Einer Stellungnahme des DIW (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung) für den Finanzausschuss zufolge kommt die Körperschaftssteuersenkung zum ganz großen Teil, dem obersten Prozent zugute, also den absoluten Spitzenverdienern. Oben pulvert man es raus, und bei den Ärmsten will man es reinholen.

Mit Katja Rietzler sprach Max Borowski.

Quelle: ntv.de

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