Bitte ehrlich machen! Wie viele Schulden sind okay?
03.12.2023, 15:03 Uhr Artikel anhören
Allein die Flutschäden im Juli 2021 in Deutschland - wie im Ahrtal - liegen dem Institut Prognos zufolge bei rund 40,5 Milliarden Euro.
(Foto: picture alliance/dpa)
Viele meinen, der Staat müsse angesichts des Urteils des Bundesverfassungsgerichts nun wieder mit dem auskommen, was er einnehme. Das klingt einleuchtend - und ist dennoch falsch.
Manch einer mag sich dieser Tage verwundert die Augen reiben. Während die UN von einer dramatischen Zuspitzung der globalen Klimakrise und einer möglichen Erderwärmung von knapp drei Grad berichten, dreht sich in Deutschland alles nur noch um die nationale Haushaltskrise. Dabei machen drei Grad aus dem verharmlosend benannten "Klimawandel" ein apokalyptisches Szenario planetarer Zerstörung. Unsere Kinder und Enkel würden schon sehr bald in einer anderen, unwirtlicheren Welt leben müssen - wenn sie die erwartbaren Verteilungskonflikte dieser Entwicklung überhaupt überleben. Der Wohlstand, den wir heute kennen, wäre ohne konsequentere Anstrengungen beim Klimaschutz wahrscheinlich schon in wenigen Jahrzehnten für die allermeisten verloren.
Wie kommt es also, dass wir angesichts dieser Problematik nichts Besseres zu tun haben, als intensiv darüber zu streiten, ob es eine Notlage gibt, ob diese außergewöhnlich im Sinne unserer Gesetzgebung ist oder ob die geplanten 60 Milliarden Euro für den Klima- und Transformationsfonds (KTF) nun doch einfach zu viel des Guten gewesen sein könnten? Oder sollten die aktuellen Generationen beim Bürgergeld, der Kindergrundsicherung oder der Rente den Gürtel enger schnallen, um nachfolgende nicht mit zu hohen Schulden zu überfordern?
Viele meinen, der Staat müsse nun wieder mit dem auskommen, was er einnehme. Das klingt einleuchtend und ist dennoch falsch. Angesichts der existenziellen Klima- und Umweltkrisen müssen wir mit aller Kraft gegensteuern - das heißt auch im großen Stil investieren. Dabei müssen wir auch das nachholen, was in den letzten 20 Jahren bei Modernisierung und Digitalisierung, bei Bildung und Infrastruktur versäumt worden ist. Für die Finanzierung reicht das heutige Steueraufkommen allerdings nicht aus. Doch das muss es - zumal bei einer im international vergleichsweise niedrigen Schuldenquote - auch nicht. Schließlich würde die Rendite kreditfinanzierter Klimaschutzinvestitionen unseren Nachkommen in Form halbwegs intakter Lebensgrundlagen zugutekommen. Bestenfalls aber auch in Form höherer Einkommen, etwa wenn es der deutschen Industrienation gelänge, bei der Herstellung klimaneutraler Technologien und Produkte zur internationalen Spitzengruppe zu gehören.
Erhebliche Sprengkraft
Es wäre auch ein Fehler, die selbstgeschaffenen Finanzlöcher dadurch stopfen zu wollen, nun bei den Schwachen und Schwächsten in unserer Gesellschaft den Rotstift anzusetzen. Sie werden am stärksten von der Klimakrise und ihrer Eindämmung betroffen sein. Selbst drastische Einschnitte in den Sozialstaat würden nicht reichen, um nur die entstandenen Lücken in den Nebenhaushalten zu schließen. Wohl aber könnten sie erhebliche Sprengkraft für den ohnehin brüchigen gesellschaftlichen Zusammenhalt freisetzen und die Akzeptanz des Klimaschutzes unterhöhlen. Zudem ergäben Sozialkürzungen auch fiskalisch betrachtet wenig Sinn, da es sich zumeist um Ausgaben handelt, die dem Wirtschaftskreislauf unmittelbar wieder über den privaten Konsum zugeführt werden. Es hat noch nie gutgetan, in Notsituationen sparen zu wollen, nicht beim Existenzminimum der Menschen und erst recht nicht in Rezessionen.
Ist der Staatshaushalt aber vielleicht generell der falsche Ort für den Klimaschutz? Schließlich, so hört man derzeit oft, können Unternehmen auch allein durch Anreize wie den CO2-Preis zur Umstellung ihrer Produktion bewegt werden, ohne dass dafür staatliche Subventionen nötig seien. Dieser müsse nun aber auch erstmal so stark steigen, dass er wirkt. Doch darauf allein zu setzen, ist ein Irrglaube. Denn wenn Deutschland nur die Peitsche schwingt, während alle großen Wettbewerber Zuckerbrot verteilen, können wir uns schnell einsam machen. Werden CO2-Preise zu schnell auf die dann nötigen Niveaus erhöht, könnte dies viele Unternehmen aus der Kurve werfen, gleichzeitig massive Preissteigerungen und noch mehr sozialen Stress mit sich bringen.
Am Ende braucht es den Staat in einem guten Zusammenspiel mit der Wirtschaft und den privaten Haushalten: Ohne staatlich geförderten Netzausbau keine Wasserstoffwirtschaft, kein zusätzlicher Schienenverkehr, keine Elektrifizierung von Produktion und Mobilität, keine Wärmewende in Wohnimmobilien. Ohne soziale Flankierung etwa durch Rückverteilung der CO2-Einnahmen oder Förderung für klimafreundliche Heizungen kein Entkommen aus Lock-in-Situationen und kein Rückhalt für die Transformation.
Massive Investitionen nötig
So legitim die Klage der CDU gegen unlautere Finanztricks und so nachvollziehbar das Karlsruher Urteil auch sein mögen, die Reaktion kann nur sein, sich nun endlich ehrlich zu machen. Der einzige Weg, Klimaneutralität noch rechtzeitig, wohlstandswahrend und sozial zu erreichen, führt über massive private wie staatliche Investitionen in umweltfreundliche Technologien und Infrastrukturen. Schätzungen über den staatlichen Anteil daran gehen weit auseinander, bewegen sich aber alle deutlich oberhalb der bisher avisierten Finanzmittel. Es mag sein, dass einige der geplanten klima- und industriepolitischen Maßnahmen - wie die geplanten Strompreis- oder Chipsubventionen - bezüglich ihrer Zielgenauigkeit und Angemessenheit diskutabel sind. Fest steht aber, dass wir jetzt viel Geld in die Hand nehmen müssen, bevor Investitionen entweder zu spät kommen oder in Ländern stattfinden, wo der Klimaschutz - ebenso wie die Staatsausgaben - deutlich lockerer gehandhabt werden und mit massiven Subventionen um v.a. ausländisches Investment geworben wird.
Die fundamentale Blockade gegenüber Reformvorschlägen für unsere Schuldenregeln (bei gleichzeitiger Ablehnung jeglicher Steuererhöhungen) schafft eine stabile Eskalationsspirale aus dem Verlust wirtschaftlicher Stärke und internationaler Wettbewerbsfähigkeit, sozialem Unfrieden und klimapolitischen Versagen.
Der Verzicht auf investive Staatsausgaben bringt uns auch keine finanzpolitische Stabilität - im Gegenteil: Eigentlich bräuchten wir die Investitionen dringend, um auch angesichts des demografischen Wandels überhaupt noch Produktivitäts- und Potenzialwachstum zu ermöglichen, eine Voraussetzung für künftige Steuereinnahmen. Schon im nächsten Jahr würde das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes durch den Wegfall der aus dem Fonds finanzierten Vorhaben deutlich kleiner ausfallen, wie bereits zahlreiche Stimmen zu Recht warnen. Dann würden zwar künftig weniger Emissionen in Deutschland entstehen, aber bedingt durch weniger heimische Produktion und nicht durch eine sauberere Herstellungsart. Vielmehr könnte die Schuldenquote dadurch sogar steigen, sodass auch in puncto Staatsverschuldung nichts gewonnen wäre. Und selbst wenn wir diese konstant hielten, was hätten kommende Generationen vom diszipliniertesten Haushalt auf einer verbrannten Erde?
Kurzum: Staatliche Investitionen in das Erreichen einer Nachhaltigen Sozialen Marktwirtschaft sollten deshalb durch eine grundgesetzliche Reform der Schuldenbremse in Zukunft anders als andere Ausgaben behandelt werden. So schwierig dabei die Abgrenzung von Investitionen gegenüber Sozial- und Konsumausgaben auch sein mag, sie ist gleichwohl notwendig.
Zivilisatorische Zeitenwende
Eine ausgewogene Reform muss auch nicht den Einstieg in das Ende tragfähiger Staatsfinanzen oder gar den Staatsbankrott bedeuten, wie manche Zwischenrufe weismachen wollen. Auch unabhängig von einer Reform ist der Staat selbstverständlich gehalten, seine Ausgaben wieder strenger zu überprüfen. Hier fallen einem insbesondere die klimaschädlichen Subventionen ein, deren Abbau sich die Koalition ohnehin vorgenommen hat. Sie setzen Fehlanreize, kosten den Staat Milliarden und sind teils auch verteilungspolitisch bedenklich (Beispiel Diesel-, Kerosin- und Dienstwagenprivilege). Wenn sie auch nicht in allen Fällen überflüssig und mit einem Schlag abbaubar sind (Beispiel Pendlerpauschale), besteht doch erheblicher Reform- und Einsparbedarf, den man nun als Teil der Lösung realisieren sollte.
Auf dem Prüfstand stehen sollte in diesem Kontext auch das kürzlich verkündete Strompreispaket der Bundesregierung, durch das die aktuellen klimaschädlichen Subventionen im Stromsteuerbereich noch einmal aufgestockt würden. Abgesehen von den fragwürdigen Folge- und Anreizeffekten wäre ein derart breiter Steuerrabatt für alle Industrieunternehmen auch sehr kostspielig. Die eigentlichen Ziele, die Transformation strategisch wichtiger Bereiche wie der Grundstoffindustrien in Deutschland gegenüber globaler Konkurrenz zu schützen und Planungssicherheit über die Energiepreisentwicklung herzustellen, würden mit einer derart unspezifischen Förderung nicht erreicht. Spätestens mit dem Karlsruher Urteil sollte die Gießkanne in der Wirtschafts- und Finanzpolitik endgültig ausgedient haben.
Wir müssen also künftig nicht nur massiv, sondern auch konzentrierter investieren. Die zivilisatorische Zeitenwende, die wir mit den multiplen Umweltkrisen Jahr für Jahr immer drastischer erleben, gebietet es, den staatlichen Handlungsspielraum für ihre Bekämpfung zu schaffen. Gelingt es uns nicht, nun endlich kraftvoll gegenzusteuern, werden die Folgen dieser Krisen sich nicht nur in den Kosten für öffentliche Haushalte niederschlagen, sondern jegliche Befassung mit Schuldenquoten irgendwann überflüssig machen. Jedes verlorene Jahr macht die nötigen Anstrengungen nur noch größer. Selbstgemachte Haushaltskrisen braucht in dieser Lage niemand.
Marcus Wortmann ist Senior Expert im Programm Nachhaltige Soziale Marktwirtschaft der Bertelsmann Stiftung. Andreas Esche ist dort als Director tätig.
Dieser Text wurde zunächst im "Makronom" veröffentlicht, einem Online-Magazin für Wirtschaftspolitik.
Quelle: ntv.de