Twitter-Zensur Aufruhr in der Erregungskammer
27.01.2012, 13:23 Uhr
Der Kurznachrichtendienst Twitter hat angekündigt, künftig Inhalte in bestimmten Ländern mit entsprechenden Filtern zu blockieren. Daraufhin brach - auf Twitter und anderswo - ein Sturm der Entrüstung los. Auch unser Autor hat sich anstecken lassen - zumindest für eine Weile.
Ich gebe es zu: Vorhin habe ich kurz meinen Glauben an das GuteSchöneWahre verloren. Für fast 20 Minuten. Und das kam so: Ankunft in der Redaktion, der Kollege ruft was von "Zensur auf Twitter" über den Tisch, hackt hektisch auf seine Tastatur ein. Ich ahnungslos, rein in den Account beim Kurznachrichtendienst, kurzer Blick in die Timeline, auf die "Trending Topics, die beliebtesten Themen. Ganz oben: Das Hashtag: #TwitterCensored. Bedeutet: Twitter zensiert. Die Twitterwelt steht Kopf. Schluss mit Frühling in Arabien und anderswo? Vorbei der fröhliche Informationsaustausch? Eiszeit für die Meinungsfreiheit?
In der Welle der Empörung
Mit einem beherzten Klick bin ich mittendrin in der Welle der Empörung, schnappe kurz nach Luft, tauche ein in den Strom aus hunderten von Tweets zum Thema. Hier ein Informationsbrocken, dort ein Meinungsfetzen. Aha: die Konkurrenz arbeitet ebenfalls bereits atemlos an Beiträgen zum Thema, netzpolitk.org hat bereits in der Nacht Alarm geschlagen, der Kollege hatte also recht, das Ende ist nah, die ach so weise Masse kann schließlich nicht irren! Der Rubikon ist überschritten, Twitter hat uns alle verraten, die freie Rede wird untergehen.
Was tun in der Verzweiflung? Was man eben so tut als Twitterat: erstmal tweeten, retweeten, hashtaggen was das Zeug hält. Vielleicht kann man ja doch etwas erreichen, haben nicht eben erst die US-User SOPA und PIPA per Mausklick gestoppt, sind wir doch nicht völlig machtlos, dank avaaz.org und Online-Petition, können wir vielleicht doch etwas ändern, wenn wir es nur laut genug wollen?
Gezwitscher zwischen Zynismus und Witzelei
Der per Suchwort erzeugte Strom der Empörung reißt mich mit und mit ein paar Klicks sind alle 400 follower alarmiert, ergießt sich auch über sie die Flut aus Gezwitscher zwischen Zynismus und Witzelei, werden Timelines geflutet, womit auch immer.
Aber was ist eigentlich passiert? Was wurde da eigentlich von Twitter bekannt gegeben? Wie sind eigentlich die Fakten? Ein Hamburger Kollege, amüsiert oder genervt von meinem aufblitzenden Aktionismus - wer kann das aus 140 Zeichen schon so genau herauslesen? - gibt dankenswerter Weise den entscheidenden Hinweis: erstmal ruhig mit den jungen Pferden. Kein Grund, gleich durchzudrehen. Hinter dem Link, den er mir mitschickt, ein erfreulich unaufgeregter Text, der erst einmal die Fakten ordnet und zu den relevanten Quellen verlinkt, zur Bekanntmachung von Twitter, zu Nachrichtenartikeln und Blogeinträgen.
Man atmet durch, man beruhigt sich, man liest. Es geht also gar nicht darum, dass die Firma Twitter in jedem Land willfährig alles sang- und klanglos im digitalen Orkus verschwinden lassen will, was der jeweiligen Regierung nicht in den Kram passt?
Der Umstand, dass da in einer Region Inhalte zurückgehalten werden, wird transparent gemacht und auch in eben dieser Region mitgeteilt? Ist das dann eigentlich überhaupt Zensur?
Man taucht tiefer: Die New York Times spricht von "micro-censorship". Mikro-Zensur. Aber wo ist da der Unterschied? Geht es nicht um ganz oder gar nicht? Ist ein bisschen Zensur nicht genauso schlimm? Und hängt diese interne Zensur-Infrastruktur nicht vielleicht doch mit den drei Milliarden Dollar zusammen, die ein saudischer Geschäftsmann vor nicht allzu langer Zeit bei Twitter investiert haben soll? Trotz sinkendem Adrenalinspiegel und guter Quellenlage ist das alles nicht leicht zu entscheiden. Ein übler Geruch bleibt auf jeden Fall.
Immerhin finde ich in dem Wust dann auch eine Anleitung, wie man von Twitter regional zurückgehaltene Tweets gegebenenfalls dennoch sichtbar machen kann. Und dass den Twitter-Verantwortlichen diese Möglichkeit mit großer Sicherheit durchaus bewusst ist.
Zensur mit eingebautem Hintertürchen
Ist Zensur mit eingebautem Hintertürchen also wirklich Zensur? Ja und nein. Freier Informationsfluss sieht anders aus. Das BöseHässlicheFalsche aber auch. Und es ist nachvollziehbar, dass Twitter (das unlängst angekündigt hat, bald auch eine Niederlassung in Deutschland einzurichten) seine Mitarbeiter davor schützen will, nach länderspezifischen Gesetzen in die (Störer-)Haftung genommen zu werden.
Was wir daraus lernen können? Dass die Welt eine komplizierte ist. Dass Twitter ein Kanal ist, in dem Nachrichten blitzschnell verbreitet werden - unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt. Dass es auch ein Empörungs-Akkumulatur ist, eine Erregungskammer, in der der Blick auf ein Thema fokussiert - und damit zwangsläufig auch verfälscht wird. Dass es ein Mittel ist, Menschen, die einem nahe stehen, auch über große Distanz in kurzer Zeit zu erreichen. Und dass es ein Werkzeug ist, das einem helfen kann, Dingen auf den Grund zu gehen.
Dass Twitter es für nötig hält, eine wie auch immer funktionierende Zensur-Infrastruktur zu schaffen, ist beklagenswert. Tröstlich ist, dass man auf Twitter auch herausfinden kann, wie man eben jene Zensur-Infrastruktur überlistet - auch wenn der Kollege vom Tisch gegenüber das nicht anerkennen will, weil er glaubt, dass es für die meisten Menschen zu kompliziert ist. Aber man kann lernen. Und ich werde lernen. Zumindest: noch besonnener zu sein, wenn ich denn "Twittern"-Button bediene. ;)
Update: Der Hamburger Kollege präzisiert die im Text genannte Unschärfe und twittert: Die Antwort ist: "Amüsiert." ;-)
Kurz vor Mitternacht macht @sogi in einem Tweet mit Quellenangabe darauf aufmerksam, dass der saudische "Prinz bin Talal bei Twitter nur 300 Millionen investiert" habe - "Auch wenn wir dank EU in Milliarden denken". Das ist korrekt. Danke für den Hinweis.
Der Kollege vom Nachbartisch beharrt darauf, dass man Zensur auch Zensur nennen müsse. Wenigstens da stimmen wir überein.
Quelle: ntv.de