Auftakt mit der RS 660 Neue dynamische Mitte bei Aprilia
21.10.2020, 15:22 Uhr
Aus 660 Kubikzentimetern Hubraum kitzelt Aprilia 100 PS und 67 Newtonmeter maximales Drehmoment.
(Foto: Thomas-Maccabelli)
Mit dem Ende von Shiver und Dorsoduro legt Aprilia eine neue Mittelklasse auf. Als Erstes kommt in Form der RS 660 die Sportversion, doch ein Nakedbike und eine Enduro stehen bereits in den Startlöchern. Was hat die neue Aprilia RS 660 zu bieten?
Jahrelang ging es bei den Motorradherstellern nur nach oben. Frei nach dem Motto "Schneller, höher, stärker" kam eine Granate nach der anderen auf den Markt. Aktuelle Topbikes reißen mit über 210 PS am Hinterrad und beschleunigen derart brutal, dass sie keine acht Sekunden für den stehenden Start auf 200 km/h brauchen. Aprilia hat auch solche Modelle im Programm. Aber mit der RS 660 künftig zudem ein feines Angebot für all jene, die dem Aus der Dorsoduro und Shiver 900 nachtrauern. Die haben die Italiener nämlich aus dem Programm genommen, weil die Veränderungen am Motor zur Erfüllung der Euro 5-Norm einfach zu aufwändig gewesen wären. Und so ist die RS 660 jetzt die erste Stufe unterhalb der ultrastarken V4-Motoren.
Einen solchen Elfhunderter halbierten die Ingenieure natürlich auch aus Kostengründen, gaben ihm aber 11,7 Millimeter mehr Hub mit auf den Weg. Dazu ein Hubzapfenversatz von 270 Grad, wie man ihn von KTM oder Yamaha kennt und schon fühlt sich dieser Motor wie ein charakterstarker V2 an. Manche Bauteile teilt sich der 660er sogar mit dem V4, beispielsweise Drosselklappen, Kolbenringe oder Ventile. Aber er wurde mit 13,5:1 höher verdichtet.
100 PS aus 660 Kubikzentimetern
Aus 660 Kubikzentimetern Hubraum kitzelt Aprilia 100 PS und 67 Newtonmeter maximales Drehmoment, gepaart mit einem ansprechenden Drehzahlband. Weder Traktor noch Turbine, weder Kaltblut noch Moskito. Besonders stolz sind die Italiener darauf, dass 80 Prozent des Drehmoments bereits bei 4000 Kurbelwellenumdrehungen anliegen und 90 Prozent ab 6250 Umdrehungen. Erst bei 11.500 Touren greift der Drehzahlbegrenzer ein.
Aprilia startet seine neue Mittelklasse-Linie zwar mit dem Sportbike RS 660, aber die nackte Tuono 660 und die geländetaugliche Tuareg 660 nähern sich ihrer Fertigstellung. Kommen diese drei Modelle wie geplant im Laufe des Jahres 2021, steht Aprilia an vorderster Front mit attraktiven Midsize-Maschinen und könnte insbesondere den japanischen Herstellern eine lange Nase zeigen.
Freilich nur, wenn die Motorräder was taugen. In drei Testkriterien begeistert die neue RS 660: Motor, Ergonomie und Fahrwerk. Der Twin besitzt Manieren, lässt sich zivil bewegen, nimmt sauber Gas an, selbst die Seilzug-Kupplung funktioniert leichtgängig. Ein Gentleman, mit dem man bummeln kann. Doch sobald man den elektronischen Gasgriff aufreißt und die Drehzahl über 7000 Umdrehungen schnalzt, beginnt das zweite Leben der 660er. Dann stiebt sie ungestüm nach vorn.
Quickshifter in Serie
Beim Rauf- und Runterschalten ist keine Kupplungshand vonnöten, Aprilia liefert den Quickshifter in Serie. Das funktioniert im Gewirr der Kehren einwandfrei, sogar dann, wenn es in Haarnadelkurven zurück in den Ersten geht. Überhaupt fahren die Italiener für die RS 660 das volle Elektronikprogramm auf: Kurven-ABS, Traktions- und Wheelie-Kontrolle, alle feinfühlig im glasklaren TFT-Cockpit einstellbar. Sogar das Motorbremsmoment kann man seinen Wünschen anpassen.
Auch die Ergonomie spricht für Aprilias neue Mitte. Die RS 660 ist nicht allzu hoch, selbst Kleingewachsene kommen mit ihren Füßen sicher auf den Boden und lange Kerls loben den Kniewinkel. Die Quadratur des Kreises? Ja, sozusagen. Der schmale Rahmen erlaubt es, die Fußrasten eng und tief anzubringen, ohne dass sie in Kurven schleifen. Oldschool wie in den 90er-Jahren sind die halbhoch angebrachten Lenkerstummel. Ausgedehnte Tagestouren gelingen mit der RS 660 ohne Muskelkater. Soll ein Beifahrer mit, muss man den aufpreispflichtigen Soziussitz anstelle des schnittigen Solisten-Heckteils montieren. Was die RS trotzdem nicht in einen Tourendampfer verwandelt.
Beim Thema Fahrwerk glänzt Aprilia, wie es sich für 54 Weltmeistertitel ziemt. Es gibt nur wenige Motorräder, die auf Anhieb so viel Vertrauen vermitteln. Es ist der 660er ganz egal, welche Schwierigkeiten man ihr zumutet. Ob man sie durch Kreisverkehre prügelt, voll zusammenstaucht, über enge Passstraßen feuert - stets bleibt sie präzise und gelassen. So wird aus einem guten ein sehr guter Fahrer. Auf Holperstrecken teilt das hintere Federbein allerdings mächtig aus. Hier haben die Controller ihren Rotstift angesetzt und die Volleinstellung samt Umlenkung eingespart. Aber es ist nachvollziehbar, dass bei 10.700 Euro Kaufpreis nicht alle Teile exquisit sein können.
An der Serie wird noch gefeilt
Aprilia verspricht, bis zur Serienauslieferung Ende Oktober einige Ungereimtheiten abzustellen. Die rechte Schwingenseite bekommt einen Schutz, damit der Fahrerstiefel nicht mehr reibt. Der Fernlichtschalter wird gekürzt, damit man ihn nicht mehr versehentlich betätigt, die Logos werden überlackiert. Wenig Aufmerksamkeit schenkt man Spiegeln (zeigen primär Fahrers Ellbogen), Hupe und Kupplungshebel; Letzterer ist übrigens nicht einstellbar. Doch das ist Jammern auf hohem Niveau, denn die praktischen Dinge überwiegen. Wie die fein einstellbaren Schalt- und Bremshebel, der leicht erreichbare Seitenständer oder der herrlich kleine Wendekreis. Und das geringe Gewicht von 183 Kilogramm begeistert.
Unterm Strich überzeugt die neue Aprilia RS 660. Als kurvengieriges Mittelklasse-Bike mit charakterstarkem Motor hat sie in der Mittelklasse kaum Konkurrenz zu fürchten. Zusammen mit den kommenden zwei Geschwistern könnte Aprilia hier sogar ein Verkaufsschlager gelingen.
Quelle: ntv.de, Ulf Böhringer, sp-x