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Femizid jährt sich zum 20. Mal Der Fall Hatun Sürücü - Widerstand bis in den Tod

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Die Hatun-Sürücü-Brücke über der A100 erinnert an den Femizid vor 20 Jahren.

Die Hatun-Sürücü-Brücke über der A100 erinnert an den Femizid vor 20 Jahren.

(Foto: IMAGO/Funke Foto Services)

Vor 20 Jahren wird Hatun Sürücü in Berlin-Tempelhof von ihrem Bruder erschossen. Ihr freier Lebensstil passt nicht zu den moralischen und religiösen Vorstellungen ihrer Familie. Der Fall verändert den Blick auf Gewalt gegen Frauen.

Hatun Sürücü stirbt an einem Samstag. Sie steht an einer Bushaltestelle in Berlin-Tempelhof, als drei Schüsse sie treffen. Der Täter ist ihr Bruder. Das Motiv: gekränkte Ehre.

20 Jahre später erinnert in Berlin ein Metallschild über der A100 an das Verbrechen. "Hatun-Sürücü-Brücke" steht an einem Mauervorsprung, darunter ein Graffiti. "Der Fall ging durch die Medien", erinnert sich Martin Hallbroch. Der 53-Jährige wohnt am anderen Ende der Sonnenallee, jeden Morgen fährt er über die Brücke zur Arbeit. Es sei wichtig, dass diese Taten nicht vergessen werden, sagt er - "aber irgendwann werden sie es doch."

"Im Namen der Ehre"

Der Fall Hatun Sürücü löst 2005 eine breite Debatte über Gleichberechtigung, Femizide und Zwangsheirat aus. "Er war einer der ersten sogenannten 'Ehrenmorde', der in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde", sagt Myria Böhmecke. Sie leitet das Referat "Gewalt im Namen der Ehre" bei der Menschenrechtsorganisation Terre des Femmes. Noch immer litten Frauen in Deutschland unter den Folgen patriarchalischer Strukturen und Kontrolle.

Auch Hatun Sürücü wird Opfer dieser Strukturen. Gemeinsam mit fünf Brüdern und drei Schwestern wächst die Deutsch-Kurdin in Berlin-Kreuzberg auf. Schon als Kind hadert sie mit den moralischen Vorstellungen ihrer Familie, lehnt sich gegen den Vater auf. In der achten Klasse nimmt dieser seine Tochter von der Schule und schickt sie in die Türkei. Mit 16 Jahren muss Sürücü ihren Cousin heiraten, ein Jahr später ist sie schwanger.

Doch die junge Frau rebelliert weiter, bis sie vollends mit ihrer Familie bricht: Mit 17 Jahren legt sie das Kopftuch ab und flieht. Zurück in Berlin holt Sürücü ihren Hauptschulabschluss nach, beginnt eine Ausbildung zur Elektromechanikerin. Als alleinerziehende Mutter findet sie Zuflucht in einem Wohnheim für minderjährige Mütter. Immer weniger passt ihr Lebensstil zu dem ihrer Familie, sie wird bedroht und verfolgt - sechs Jahre später ist Sürücü tot.

Femizid oder "Ehrenmord"

Das Verbrechen an der 23-Jährigen geht als "Ehrenmord" durch die Medien. Der Begriff ist umstritten, Terre des Femmes hält dennoch an ihm fest. "Wir verwenden sowohl den Begriff des Femizides als auch den des 'Ehrenmordes', unterscheiden diese beiden Begriffe aber voneinander", sagt Myria Böhmecke. Es handele sich in vielen Fällen um unterschiedliche Gewaltformen: Femizid bedeute die Ermordung einer Frau, weil sie eine Frau ist. Opfer von "Ehrenmorden" hingegen könnten auch Männer sein.

"Ein weiterer Unterschied ist, dass bei Gewalt im Namen der Ehre die Täter oft aus der eigenen Familie kommen, es können die Eltern, der Bruder oder der Onkel sein." Eine Abgrenzung der beiden Begriffe sei wichtig, um Fachpersonen wie Polizei, MitarbeiterInnen des Jugendamtes oder Lehrkräfte adäquat zu sensibilisieren und Hilfen bereitstellen zu können - denn von Gewalt im Namen der Ehre seien häufig schon Minderjährige betroffen.

DaMigra e.V., Dachverband der Migrantinnenorganisation, sieht die Gefahr einer Legitimierung. Bezeichnungen wie "Ehrenmord" oder "Beziehungstat" verschleierten den Blick auf den gemeinsamen Nenner, auf den sich alle Kulturen dieser Welt einigen könnten: Die Frau ist Objekt des Mannes. Das Aufbegehren gegen diese patriarchale Denkweise habe nicht selten den Tod zur Folge.

Weltweit 140 Femizide pro Tag

2006 erklärt Sürücüs jüngster Bruder vor dem Berliner Landgericht, seine Schwester habe sich benommen wie eine Deutsche. Der 20-Jährige gesteht die Tat, wird zu einer Jugendstrafe von neun Jahren und drei Monaten verurteilt. Die zwei mitangeklagten Brüder setzen sich in die Türkei ab und werden 2017 von einem Gericht in Istanbul wegen fehlender Beweise freigesprochen.

"Der Fall von Hatun Sürücü steht stellvertretend für viele Opfer", sagt Böhmecke. Straftaten gegen Frauen und Mädchen in Deutschland steigen in fast allen Bereichen. Im Jahr 2023 wurden laut Bundeskriminalamt insgesamt 938 Mädchen und Frauen Opfer von Tötungsdelikten. 360 davon endeten tödlich.

Jüngere Fälle zeigen, dass Frauen weiterhin allein aufgrund ihrer Lebensweise sterben müssen: Im Juni 2024 verurteilte das Landgericht Bremen einen 24-Jährigen, der seine Schwester erstach, wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Der Angeklagte habe gedacht, er müsse seine Schwester umbringen, um seine Ehre und die seiner Familie wiederherzustellen, so die Richterin. 19 solcher Taten zählte Terre de Femmes im Jahr 2023.

Gefährlichster Ort ist das Zuhause

Schätzungen der Vereinten Nationen zufolge wurden 2023 weltweit 51.100 Mädchen und Frauen von ihrem Partner oder einem Familienmitglied getötet - das entspricht 140 Opfern pro Tag. Der gefährlichste Ort für Frauen und Mädchen sei ihr Zuhause, schreibt die Organisation UN-Women in einem Bericht aus dem vergangenen Jahr. Die Experten weisen darauf hin, dass viele Opfer vor ihrem Tod auf ihre Not aufmerksam gemacht hätten und Tötungen vermeidbar gewesen wären.

"Der Opferschutz muss dringend verbessert und Präventionsarbeit in Schulen bundesweit umgesetzt werden", sagt auch Myria Böhmecke. Fachpersonen müssten geschult und sensibilisiert werden, um adäquate Hilfen leisten zu können. "Niemand darf wegschauen, wenn es um Gewalt und Kontrolle geht."

Der Fall Hatun Sürücü ist auch nach 20 Jahren nicht vergessen. Neben der Brücke in Berlin-Neukölln trägt auch ein Sportplatz in Moabit ihren Namen, in der Oberlandstraße erinnert eine Gedenktafel an die Tat. Regelmäßig wird dort Blumenschmuck niedergelegt und den Opfern von Femiziden gedacht. Eine zentrale Gedenkveranstaltung im Besucherzentrum des Flughafens Tempelhof am gestrigen Abend sollte nicht nur an Hatun Sürücü erinnern, sagt der Bezirksbürgermeister von Tempelhof-Schöneberg, Jörn Oltmann. "Das Gedenken ist auch Mahnung an uns alle."

Quelle: ntv.de

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