Bibelstunde mit Schattenseiten Die manipulative Masche von Shincheonji
10.05.2025, 14:35 Uhr Artikel anhören
Gründer und Guru - Lee Man-Hee.
(Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS)
Eine harmlose Anfrage, ein freundlicher Bibelkreis, viele nette Leute - in Deutschland breitet sich die südkoreanische Neureligion "Shincheonji" aus. Und mit ihr manipulative Methoden, Höllendrohungen und psychischer Druck.
Markus (Name geändert) gerät ganz unbedarft in die Gruppe, die er später unter Androhung von ewigen Höllenqualen wieder verlassen wird. Eigentlich will er nur einem Kommilitonen an der Uni bei einem Referat helfen. Dieser lädt ihn schon bald in einen Bibelkreis ein. Markus, selbst christlich sozialisiert und entsprechend interessiert, denkt sich nicht viel dabei. Wie eine "gewöhnliche Freikirche" habe alles gewirkt, erzählt er ntv.de. Die Menschen seien sympathisch und zuvorkommend gewesen.
Erst nach einigen Wochen erfährt er, um welche Gruppe es sich tatsächlich handelt: Shincheonji, eine südkoreanische Neureligion, die seit einigen Jahren auch in Deutschland expandiert. Markus beschließt, sich aus der Gruppe zurückzuziehen. Gerade noch rechtzeitig. Die vormals freundlichen Menschen in der Gruppe drohen ihm, dass sein Weggang endgültig sein würde, dass er sich damit ewigen Höllenqualen hingeben würde, weil Gott ihn ebenfalls verstoßen würde. Doch Markus ist gedanklich und sozial noch nicht so stark in der Gruppe verankert, als dass ihn das hindert.
Er hat Glück. Und er ist kein Einzelfall: Shincheonji (deutsch: "Neuer Himmel und neue Erde") ist eine christliche Gemeinschaft, die ihren Mitgliedern die "wahre Offenbarung" und den einzigen Weg zur ewigen Erlösung verspricht. Dabei arbeitet die Gruppe mit Methoden, die hochproblematisch sind.
Ein Pastor, der alles weiß und niemals stirbt
Aber was hat es genau mit Shincheonji auf sich - woher kommt diese Gemeinschaft und was glauben sie - und warum sind sie so gefährlich? Shincheonji wurde 1984 vom südkoreanischen Prediger Lee Man-Hee gegründet. Die Anhängerinnen und Anhänger glauben, durch Shincheonji entstehe Gottes neues Reich auf Erden. Im Zentrum der Lehre steht die vermeintliche Exklusivität: Nur wer die Offenbarung der Bibel genau so versteht wie Gründer Lee, findet angeblich Erlösung. Alle anderen Kirchen gelten als fehlgeleitet oder sogar als vom Teufel beeinflusst. Deutlich wird dieses Selbstbild zum Beispiel in einer Pressemitteilung, die Shincheonji Ende April 2025 veröffentlicht hat. Darin behauptet der Berliner Ableger der Gruppe, Shincheonji sei "die einzige Gemeinschaft weltweit, die die Offenbarung vollständig versteht." Und weiter: Es gäbe "unter allen Christen weltweit, außer den Mitgliedern von Shincheonji, […] keinen einzigen Menschen", der die Offenbarung nicht verändert habe.
Die Offenbarung - das ist das letzte der biblischen Bücher der heutigen Bibel -, steht im Zentrum des Glaubens von Shincheonji. Darin wird nach Ansicht von Shincheonji beschrieben, wie das Ende der Zeit aussieht. Und nur einer hat genau entschlüsselt, was darin steht: Lee Man-Hee, heute etwa 93 Jahre alt. Er selbst behauptet, allein er habe das "geheime Wissen" für die Endzeit direkt von Gott empfangen. Er wird von seinen Anhängerinnen und Anhängern verehrt wie ein Prophet. Mehr noch: Ein zentraler Glaubenssatz ist bei Shincheonji, dass Lee unsterblich sei. Der irdische Tod wird ihn also - so glauben sie - niemals ereilen.
Exklusive Heilsversprechen, wie man sie bei Shincheonji findet, gehen mit vielen problematischen Aspekten einher. Da ist etwa der psychische Druck, der auf die Mitglieder ausgeübt wird. Insbesondere bei Menschen, die länger in einer so geprägten Gruppe leben, kann dieser Druck zu schweren psychischen Folgen führen. So berichten zum Beispiel auch viele ehemalige Zeugen Jehovas, dass sie noch Jahre nach ihrem Ausstieg mit Angstzuständen kämpften, weil sie sich (ungewollt) immer wieder fragten: "Was, wenn die Gruppe doch recht hat?"
Mit der Exklusivität geht allerdings auch häufig eine starke Bildung von Feindbildern einher. Gruppen wie Shincheonji haben ein stark dualistisches Weltbild: Die eigene Gruppe gilt als heilig und göttlich, alles andere - insbesondere Kritiker - gelten als Handlanger des Satans, die bekämpft werden müssen. Auch wenn das nur selten tatsächlich in physischer Gewalt ausartet, so führt das mindestens zu einer Abschottung. Kontakte zu Familien und Freunden werden gekappt, jegliche kritische Stimmen werden stummgeschaltet.
Zudem drängt - so glauben die Mitglieder von Shincheonji - die Zeit. Im Glauben der Gruppe steht die Apokalypse bevor, die Endzeit ist angebrochen. Umso dringlicher ist nach deren Verständnis, noch möglichst viele Menschen "auf die richtige Seite" zu ziehen und sie zu Shincheonji zu holen. Ewiges Leben würden nur die Mitglieder von Shincheonji erlangen. Allen anderen ist eine Ewigkeit im "Feuer- und Schwefelsee" vorherbestimmt.
Fiese Rekrutierung mit Tarnorganisationen
Es sind aber nicht nur Isolation und psychischer Druck, von dem viele Ex-Mitglieder inzwischen in Dutzenden kritischen Veröffentlichungen berichten. Es ist auch das, was Markus passiert ist: Shincheonji missioniert oft nicht unter eigenem Namen, sondern arbeitet mit sogenannten "Tarnorganisationen" - Bibelkurse, Hilfsvereine, Friedensinitiativen -, die gar nicht erkennen lassen, welche Gruppe dahintersteckt. In Universitäten, Fußgängerzonen oder sogar auf Dating-Apps suchen die Missionare gezielt das Gespräch mit jungen Leuten. Oft geben sie vor, an harmlosen Umfragen oder Studienarbeiten zum Thema "Glaube" oder "Bibel" zu arbeiten. Wer Interesse zeigt, wird zu einem kostenlosen Bibelkurs eingeladen - ohne zu wissen, wer ihn veranstaltet. Erst nach einigen Wochen wird vielen klar, wer tatsächlich dahintersteckt. Diese schrittweise Enthüllung ist Taktik: Neulinge sollen erst tief involviert sein, bevor sie "Shincheonji" googeln können - denn im Internet finden sich inzwischen zahlreiche kritische Berichte.
Im Fokus von Shincheonji stehen auch bereits bestehende christliche Kirchengemeinden und sogar deren Pfarrerinnen und Pastoren. Mit scheinbar harmlosem Interesse an interreligiösem Dialog oder Friedensprojekten - oft unter dem Namen der Tarnorganisation HWPL (Heavenly Culture, World Peace, Restoration of Light) - suchen Shincheonji-Mitglieder Kontakt zu Kirchen und laden zu Events ein. Auch dahinter verbirgt sich nur ein Ziel: Andere Christen davon zu überzeugen, dass Shincheonji der alleinig richtige Weg ist.
Militärischer Drill und Missionierungsquoten
Innerhalb der Gruppe herrscht ein strenges Regime aus Leistungsdruck und Gehorsam. Was als herzliche Gemeinschaft beginnt - Neuankömmlinge werden, wie Markus, mit auffallend viel "Love Bombing" überschüttet - wandelt sich bald in rigide Kontrolle. Aussteigerinnen und Aussteiger berichten von einem straffen Terminplan: mehrmals pro Woche abendliche Unterrichtseinheiten, stundenlange Bibellektionen via Zoom oder vor Ort. Fehlen ist tabu und wird als "Einfluss des Satans" gedeutet. Schnell dreht sich das gesamte Leben nur noch um Shincheonji. "Irgendwann bestand mein Leben nur noch aus Shincheonji", beschreibt eine Aussteigerin ihre Erfahrung.
Ehemalige Mitglieder berichten von militärischem Drill und strikten Quoten beim Missionieren. Wer diese nicht erfüllt, müsse mit Strafen vor der gesamten Gruppe rechnen. Zudem gibt es Berichte, dass Aussteigewillige gestalkt werden. Zu den wirksamsten Manipulationsmethoden gehört, Mitglieder systematisch von äußeren Einflüssen abzuschirmen. Soziale Kontakte nach außen - selbst zur engsten Familie - werden als störend gebrandmarkt. Mit dieser Angst-Isolation bewirkt die Shincheonji, dass treue Mitglieder sogar ihren Job oder das Studium aufgeben und ihr altes Leben hinter sich lassen.
Trotz aller Kontroversen breitet sich Shincheonji international weiter aus - auch in Europa. Die Bewegung selbst spricht von weltweit über 400.000 Anhängern, vorwiegend in Südkorea. Unabhängige Schätzungen sind zurückhaltender, liegen aber ebenfalls im Bereich um die 300.000. In Deutschland gibt es vermutlich um die 2000 bis 3000 Mitglieder, verteilt auf mehrere Gemeinden. Die größten Sitze der Neureligion hierzulande sind Frankfurt am Main, Berlin und Essen. Daneben tauchen Shincheonji-Gruppen immer wieder in anderen Uni-Städten auf - von Marburg über Hamburg bis München. Überall agiert Shincheonji verdeckt und digital vernetzt: Seit der Corona-Pandemie verlagerten sich Mission und Kurse stark ins Internet - auf YouTube, Instagram, Facebook.
Wie sieht die Zukunft von Shincheonji aus?
Spannend bleibt, wie es mit der Gruppe künftig weitergeht: Der Gründer und "Pastor der Endzeit", Lee Man-Hee ist im Glauben der Gruppe nicht nur unsterblich, sondern mit seinen 93 Jahren inzwischen hochbetagt. Bei Massenveranstaltungen jubeln ihm die Mitglieder zu wie einem Popstar und glauben fest an seine Unfehlbarkeit. Da liegt die Frage nahe: Was geschieht mit Shincheonji, wenn Lee stirbt? Da das eigentlich nicht passieren darf, widerspricht es der Lehre der Gruppe, einen Nachfolger aufzubauen. Und so ist das bislang auch nicht geschehen. Möglich ist, dass Shincheonji - ähnlich wie andere charismatische Kulte - einen internen Machtkampf erleben oder ihre Endzeit-Versprechen neu justieren muss, wenn Lee nicht mehr da ist. Auch das ist aus entsprechenden unerfüllten Prophezeiungen ähnlicher Gruppen bekannt. Womöglich wird Lees irdischer Tod umgedeutet und auf eine geistige Ebene gehoben, auf der er weiterlebe, bis die Prophezeiungen erfüllt seien. Bis auf Weiteres jedoch setzt Shincheonji alles daran, weiterzuwachsen.
Niemand ist gewappnet davor, mit Gruppen wie Shincheonji in Kontakt zu kommen. Und die vermeintliche Sicherheit, die ein solcher Kult bietet, ist attraktiv: In einer Welt, die zunehmend von Chaos und Krisen geschüttelt wird, sind einfache Antworten auf komplexe Fragen verlockend. Am besten gewappnet sind diejenigen, die immer kritisch nachfragen - und skeptisch werden, wenn ihnen Antworten verweigert werden.
Quelle: ntv.de