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Manipulation, Macht, Missbrauch Ist das Christentum eine Sekte?

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Das Christentum ist mit etwa 2,5 Milliarden Gläubigen die größte Weltreligion.

Das Christentum ist mit etwa 2,5 Milliarden Gläubigen die größte Weltreligion.

(Foto: picture alliance / Godong)

Missbrauchsskandale, soziale Kontrolle, rigide Dogmen: Immer wieder stehen Kirchen in der Kritik. Manche sagen sogar, das Christentum sei nichts anderes als eine riesige Sekte. Doch das lenkt davon ab, die richtigen Fragen zu stellen.

Wenn über Religion gesprochen wird, schwingt oft ein bitterer Beigeschmack mit. Vorwürfe von Missbrauch und Kontrolle prägen die öffentliche Wahrnehmung. Gerade die großen Kirchen stehen immer wieder in der Kritik. Immer wieder hört man auch die Aussage: Das Christentum ist doch am Ende nichts anderes als eine riesige Sekte.

Das mag provokant sein, es ist aber vor allem eines: nicht besonders hilfreich. Denn wenn etwas als "Sekte" bezeichnet wird, dann geschieht das meistens, um es als Ganzes rigoros als problematisch einzuordnen. Das Wort ist kein neutraler Begriff, sondern ein Stigma. Es weckt Bilder von fanatischen Anführern, Gehirnwäsche, von zerstörten Familien, von blindem Gehorsam. Sekten, das sind doch immer die "anderen", die kleinen, unheimlichen Gruppen mit ihren bizarren Ritualen. Aber was ist mit einer Religion, die - wie das Christentum - über zwei Milliarden Anhänger hat? Kann man eine solche Bewegung überhaupt als Sekte bezeichnen?

Fakt ist: Jesus gründete vor rund 2000 Jahren keine neue Religion, sondern wirkte als jüdischer Wanderprediger innerhalb seines eigenen religiösen Umfelds. Seine Anhänger bildeten zunächst eine kleine Gruppe innerhalb des Judentums, die von außen als Sondergemeinschaft wahrgenommen wurde - in einem gewissen Sinne also als "Sekte". Doch der Begriff hatte damals eine andere Bedeutung als heute. Er leitet sich vom lateinischen "secta" ab, was so viel wie "Richtung" oder "Lehre" bedeutet. Erst im Laufe der Jahrhunderte wurde daraus das negativ besetzte Wort, das mit Manipulation und Kontrolle assoziiert wird. Wer die frühen Jesus-Anhänger als Sekte bezeichnet, hat also recht - und müsste dann auch andere jüdische Gruppierungen dieser Zeit so nennen.

Doch genau hier beginnt die Schwierigkeit: Sprache verändert sich, und Begriffe haben heute eine ganz andere Bedeutung als damals. Was einst eine neutrale Bezeichnung für eine religiöse Richtung war, ist heute ein negativer Begriff. Wer das Christentum als Sekte bezeichnet, übersieht diese Entwicklung - und verkennt, dass die eigentliche Frage nicht die nach dem Label, sondern nach den Strukturen ist. Denn ob eine religiöse Gruppe problematisch ist, zeigt sich nicht an ihrem Namen, ihrer Größe oder ihrem offiziellen Status, sondern an dem, was in dieser Gruppe passiert. Zentral ist zum Beispiel die Frage, wie sie mit Macht umgeht - ob sie Freiheit ermöglicht oder Kontrolle ausübt. In geschlossenen Systemen wird oft ein klares Feindbild geschaffen: Die Außenwelt gilt als verdorben, Kritiker als Feinde, Zweifel als Gefahr. Wer geht, verliert nicht nur seine Gemeinschaft, sondern oft auch sein gesamtes soziales Umfeld.

Subtile Dynamiken unabhängig von der Religion

Solche Mechanismen sind nicht an bestimmte Religionen oder Konfessionen gebunden. Sie finden sich in fundamentalistischen Strömungen des Christentums ebenso wie in extremen Ausprägungen anderer Religionen, in esoterischen Bewegungen oder politischen Gruppierungen. Das Christentum als Ganzes mit dem Begriff "Sekte" zu belegen, verdeckt diese entscheidenden Differenzierungen. Es gibt christliche Gemeinschaften, die eine offene, reflektierte Auseinandersetzung mit Glauben ermöglichen - und andere, die mit Druck und Angst arbeiten. Das Gleiche gilt für religiöse Sondergruppen, die sich von etablierten Kirchen abgespalten haben. Die Bezeichnung als Sekte allein liefert keine Aussage darüber, wie eine Gruppe mit ihren Mitgliedern umgeht. Viel entscheidender ist, ob sie ihre Anhänger und Anhängerinnen in Abhängigkeit hält, ihre Freiheit einschränkt und sie systematisch manipuliert.

Die Dynamiken, die eine Gruppe problematisch machen, sind dabei oft subtil. Sie beginnen mit harmlos wirkenden Regeln, mit einer klaren Trennung von "richtig" und "falsch", mit einer Gemeinschaft, die Wärme und Zugehörigkeit vermittelt - solange man sich anpasst. Erst nach und nach werden die Grenzen enger, der Druck größer, bis kritisches Denken kaum noch möglich ist. Menschen bleiben nicht in solchen Gruppen, weil sie es nicht besser wissen, sondern weil sie von ihnen abhängig sind. Wer aussteigt, verliert nicht nur einen Glauben, sondern oft ein komplettes Lebensgefühl und oder sein soziales Umfeld.

An diesem Punkt verschwimmen die Grenzen zwischen Religion und Sekte. Auch große Kirchen haben in der Vergangenheit Mechanismen genutzt, die Menschen an sich binden und Kontrolle ausüben. Und natürlich kommt es auch heute noch vor: Exkommunikation, soziale Ächtung, der Ausschluss von Sakramenten - all das waren und sind Mittel, um Macht zu sichern. Aber genau deshalb ist die Frage nicht, ob eine religiöse Tradition als Ganzes eine "Sekte" ist. Sondern man muss detailliert auf die einzelnen Gruppen und Gemeinden schauen: Werden Menschen ermutigt, eigenständig zu denken? Oder werden sie unter Druck gesetzt, sich einer vermeintlichen absoluten Wahrheit zu unterwerfen? Gibt es einen offenen Diskurs oder werden Zweifel bestraft?

Gegenfrage: Was gewinnt man durch das Label?

Auf die Frage, ob das Christentum eine Sekte ist, sollte daher eine Gegenfrage gestellt werden: Was ist denn "das Christentum" überhaupt? Und was gewinnt man dadurch, dass man es pauschal als "Sekte" bezeichnet? Sprache beeinflusst, wie über ein Thema nachgedacht wird. Begriffe lenken den Blick auf bestimmte Aspekte, anderer wiederum blenden sie aus. Wer das Christentum als Sekte bezeichnet, suggeriert eine Einheit, die es in dieser Form nicht gibt. Das Christentum ist keine geschlossene Organisation mit zentraler Steuerung, sondern ein vielschichtiges Netzwerk aus Konfessionen, Traditionen und theologischen Strömungen, die teils grundverschiedene Auffassungen vertreten. Es besteht kein Zweifel daran, dass es da - auch innerhalb der großen Kirchen! - natürlich problematische Strukturen gibt, von (Macht-)Missbrauch bis hin zu rigiden Dogmen, die Zweifel und Kritik unterdrücken. Doch ebenso gibt es Räume der Freiheit, des offenen Dialogs, der spirituellen Reflexion. Der Begriff "Sekte" wird dieser Vielfalt nicht gerecht.

Um es konkret zu machen: Gerade zum Beispiel in der römisch-katholischen Kirche sind die Spannungen zwischen reformorientierten und traditionalistischen Kräften offensichtlich. Während manche Gemeinden eine theologisch liberale, menschenzentrierte Haltung vertreten, stehen andere für eine rigide, autoritäre Form des Glaubens. Ähnlich verhält es sich in evangelischen Kreisen, wo neben offenen und demokratischen Gemeinschaften auch fundamentalistische Strukturen existieren, die Druck auf ihre Mitglieder ausüben. Dass innerhalb dieser Kirchen Missbrauch geschehen konnte und kann - geistlicher, psychischer, sexueller -, liegt nicht daran, dass sie "Sekten" wären, sondern daran, dass in bestimmten Bereichen Macht unkontrolliert wachsen konnte.

Sekte - kein Wort für die wahren Probleme

Und genau deshalb ist das Wort "Sekte" nicht die beste Wahl. Es lenkt von den tatsächlichen Problemen ab, indem es eine pauschale Trennlinie zwischen vermeintlich "normalen" und "problematischen" Religionen zieht. Dabei liegt die Realität dazwischen. Eine gefährliche Dynamik kann sich überall entwickeln, unabhängig davon, ob es sich um eine etablierte Kirche oder eine kleine Freikirche handelt. Wer das gesamte Christentum als Sekte bezeichnet, riskiert zudem, echte Sekten zu verharmlosen. Es gibt Gruppen, die Menschen gezielt manipulieren, abschotten und in totale Abhängigkeit bringen. Und wer den Begriff dann vielleicht noch auf jede Form von Religion ausweitet, nimmt der Bezeichnung völlig ihre Trennschärfe - und damit auch die Möglichkeit, tatsächlich problematische Strukturen zu benennen.

Es bleibt also: Entscheidend ist nicht die Frage nach dem Label, sondern die Frage nach den Strukturen. Wer nur nach einer pauschalen Einordnung sucht, wird die falschen Schlüsse ziehen. Viel wichtiger ist der Blick auf das, was tatsächlich geschieht: Schafft eine Gemeinschaft Raum für Zweifel, Entwicklung und Eigenverantwortung? Oder fördert sie Abhängigkeit, Angst und Gehorsam?

Diese Unterscheidung ist es, die zeigt, ob eine Gruppe Menschen stärkt oder sie manipuliert. Religion kann eine Quelle von Sinn und Gemeinschaft sein - oder ein Werkzeug der Kontrolle. Das ist der Punkt, an dem genau hingeschaut werden muss. Nicht das Wort "Sekte" entlarvt problematische Dynamiken, sondern die Strukturen, die Menschen in ihren Entscheidungen begrenzen oder ihnen Freiheit ermöglichen. Am Ende geht es nicht darum, was auf einer Gruppe draufsteht - sondern darum, was in ihr passiert.

Quelle: ntv.de

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