Europol warnt eindringlich Gefährliche Online-Kulte manipulieren Jugendliche


Die Gruppen haben gezielt junge Leute im Blick.
(Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa)
Unter dem Deckmantel von Gemeinschaft und Zugehörigkeit locken gefährliche Online-Gemeinschaften Minderjährige an, isolieren sie von ihrem Umfeld und manipulieren sie Schritt für Schritt zu extremen Handlungen. In manchen Fällen endet das sogar mit dem Suizid.
"764" - das ist der Name einer Online-Gemeinschaft, die nur eines im Sinn hat: neue Mitglieder zu finden, die sie manipulieren und erniedrigen kann. Und das geht bis zum Tod. Im November 2021 nimmt sich der 25-jährige US-Amerikaner Samuel H. vor laufender Videokamera das Leben - angefeuert von seinen "Freunden" aus der Online-Community, die inzwischen von manchen Behörden als "ideologisches gewalttätiges Extremistennetzwerk" eingestuft wurde.
Die europäische Polizeibehörde Europol warnt nun in einer kürzlich veröffentlichten Mitteilung genau vor solchen Gruppierungen. Die Behörde schreibt, dass gewaltverherrlichende Online-Kulte in den vergangenen Jahren zunehmend Kinder und Jugendliche im Alter von 8 bis 17 Jahren ins Visier nehmen. Dabei gehe es nicht um einzelne Täter oder Täterinnen, sondern um lose vernetzte Gruppen und geschlossene Gemeinschaften, die Minderjährige gezielt zu Gewalttaten gegen sich oder andere anstacheln - im schlimmsten Fall bis zum Suizid, wie im Fall von Samuel H. "Diese kriminellen oder gewaltbereiten extremistischen Gruppen konkurrieren miteinander, um die brutalsten Inhalte zu verbreiten. Ihre Methoden ähneln denen bestimmter Sekten, in denen charismatische Anführer Täuschung und Manipulation einsetzen, um ihre Anhänger gefügig und abhängig zu machen", so Europol.
Das Vorgehen ist dabei perfide und menschenverachtend. Und es zeigt, wie wichtig es ist, sich mit den Mechanismen auseinanderzusetzen, die auch im Bereich problematischer (religiöser) Gruppen immer wieder zu finden sind.
Von Kontaktaufnahme bis zur totalen Kontrolle
Am Anfang steht oft ein eiskaltes psychologisches Kalkül: Die Täter suchen nach Jugendlichen, die besonders verletzlich sind - etwa Kindern, die unter psychischen Problemen oder Ausgrenzung leiden. Laut Europol durchforsten die Kriminellen gezielt die digitalen Treffpunkte von Jugendlichen. Beliebte Plattformen sind Gaming-Chats, Foren zu Online-Spielen, Video-Streaming-Dienste und soziale Netzwerke. Dort suchen die Täter nach Posts oder Profilen, die auf Einsamkeit, Verunsicherung oder Depression hindeuten. Sogar Selbsthilfe-Foren für suizidgefährdete Jugendliche wurden bereits infiltriert - dort tarnten sich Täter als mitfühlende Gleichgesinnte.
Haben sie potenzielle Opfer ins Visier genommen, beginnt meist eine Phase überschwänglicher Zuwendung - das sogenannte "Love Bombing", das auch in vielen sogenannten Sekten ein bekannter Mechanismus ist. Die neuen Mitglieder werden regelrecht mit Aufmerksamkeit, Verständnis, Zuneigung und Komplimenten überschüttet, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Gerade einsame oder unsichere Jugendliche fühlen sich durch diese intensive Wertschätzung endlich gesehen. Es ist aber letztlich nur eines: eine emotionale Falle, die sie gefügig machen soll.
Die Kommunikation wird dann schnell auf private Kanäle verlegt - etwa in geschlossene Chatgruppen auf Plattformen wie Discord, Telegram oder WhatsApp. Parallel dazu sammeln die Täter bereits persönliche Informationen über ihre jungen Opfer. Diese Informationen - etwa familiäre Probleme, intime Geständnisse oder peinliche Geheimnisse - dienen später als Druckmittel. Schritt für Schritt wird eine Isolation vorangetrieben: Die neuen "Freunde" aus der Online-Gruppe reden dem Opfer ein, nur sie würden es wirklich verstehen. Außenstehende, also Eltern, alte Freundinnen und Freunde, Lehrkräfte, würden "nichts kapieren" oder seien sogar Feinde. So werden betroffene Jugendliche immer weiter von ihrem realen Umfeld abgekapselt.
Schon früh kommt in den Kontexten dieser Internet-Gruppen die Desensibilisierung gegenüber Gewalt und Tabus hinzu. Was harmlos beginnt, steigert sich schleichend. Zunächst teilen die Gruppen vielleicht nur gruselige Memes oder Horror-Videos. Doch bald fordern sie die Teenager auf, immer extremere Inhalte anzuschauen oder selbst zu erstellen - von verstörenden Tierquälerei-Clips bis zu Darstellungen sexualisierter Gewalt. Die Hemmschwelle sinkt. Was gestern noch schockiert hat, wirkt heute schon "normal". So werden die Opfer nach und nach an extreme Gewalt gewöhnt, bis sie bereit sind, selbst welche auszuüben oder zu erdulden.
All diese psychologischen Tricks - von der anfänglichen Liebesbombardierung über die gezielte Isolation bis zur Desensibilisierung - zielen auf totale Kontrolle. Das Opfer soll emotional abhängig, abgestumpft und gehorsam werden.
Strategien der Täter: Rekrutierung, Grooming und Zwang
Der Prozess ähnelt dem schon länger bekannten "Grooming" bei Sexualstraftätern: Zunächst wird Vertrauen aufgebaut, dann kommt die Ausbeutung. Nachdem die Täter oder Täterinnen ihre Opfer in der ersten Phase mit Freundlichkeit geködert haben, schlägt die Stimmung um. Die Jugendlichen werden massiv unter Druck gesetzt, etwa durch sexuelle Bilder, die sie geschickt haben oder schicken sollen, oder sogar durch Gewalttaten, zu denen sie gedrängt wurden und von denen sie Aufnahmen teilten. Oft wird ihnen eingeredet, dies gehöre zur "Mutprobe" oder sei nötig, um von der Gruppe wirklich akzeptiert zu werden.
Hier greifen Angst und Erpressung als Methode. Die zuvor gesammelten intimen Informationen und Medien dienen den Tätern nun als Waffe: Weigert sich das Opfer, wird gedroht, peinliche Chats oder Bilder öffentlich zu machen. Mit dem erzwungenen Material werden die Jugendlichen erpresst. Viele stecken nun in einer fatalen Zwickmühle: Sie schämen sich, fürchten die Bloßstellung und vertrauen sich deshalb niemandem an. Einige Gruppen machen ihren Mitgliedern auch unmissverständlich klar, dass ein Austritt "unmöglich" sei - man droht indirekt mit Gewalt oder behauptet, man habe ohnehin alle Daten und kenne die Wohnadresse.
Ähnlichkeiten zu klassischen Sekten
In der Tat ist es gerechtfertigt, bei diesem Phänomen von "Internet-Kulten" zu sprechen - auch, wenn sie nicht unbedingt einen religiösen Überbau haben. "Diese Gemeinschaften funktionieren wie Sekten", erklärt Europol. Tatsächlich findet man nicht nur die gerade ausgeführten, sondern noch mehr Parallelen: Wie in sogenannten Sekten gibt es oft einen charismatischen Anführer oder eine kleine Führungsriege. Diese Personen inszenieren sich als unfehlbare Mentoren oder gar als Erlöser. Ihre Anhängerinnen und Anhänger werden systematisch getäuscht und manipuliert, bis sie gehorsam sind und abhängig werden. Kritik an der Hierarchie ist tabu - Befehle gelten als oberste Wahrheit.
Zudem versuchen diese Kulte - wie auch problematische religiöse Gruppierungen -, den Lebensmittelpunkt ihrer Mitglieder vollständig an sich zu reißen. Opfer werden sozial isoliert - alles außerhalb der Gruppe wird als unwichtig oder feindselig dargestellt. Dadurch verlieren die Jugendlichen allmählich ihre Autonomie. Sie verbringen jede freie Minute in der virtuellen Gemeinschaft, bis diese zur einzigen Bezugswelt wird.
Und so folgt - wie auch klassischen Sekten - die Indoktrination oft in kleinen Schritten. Anfangs erscheinen die Forderungen harmlos (etwa gemeinsame kleine "Mutproben" oder exklusives Insiderwissen). Doch ist die Daumenschraube einmal angelegt, zieht sie sich immer weiter zu. Die Mitglieder gewöhnen sich an immer krassere Regeln und Taten. So entsteht eine steigende Radikalisierung, ohne dass die Opfer den Bruch bemerken. Plötzlich ist es "normal", Befehle blind zu befolgen oder sogar das eigene Leben zu riskieren, wenn es die Gruppennorm verlangt.
Und so sind es letztlich oft Angst und Scham, die die Mitglieder bei der Stange halten. Einerseits vermittelt die Gruppe ein Gefühl von Exklusivität und Zugehörigkeit - man glaubt, Teil von etwas Größerem oder Auserwähltem zu sein. Andererseits fürchten die Mitglieder Bestrafung oder Ausgrenzung, sollten sie sich widersetzen. Dieses Pendel zwischen Loyalitätsbelohnung und Androhung von Konsequenzen ist nicht nur ein Merkmal in toxischen zwischenmenschlichen Beziehungen, sondern auch ein typisches Machtinstrument in destruktiven Kulten, offline wie online.
Vorsicht ja, Panik nein
Ist das nun ein Grund, den eigenen Kindern das Internet abzuschalten? Natürlich nicht. Wie in vielen Bereichen gilt auch hier: Es ist gut, hinzuschauen. Aber in Panik sollte man nicht verfallen. Wichtig ist eine offene Kommunikation mit den Jugendlichen, damit sie von potenziellen Gefahren wissen. Potenzielle Warnsignale für Eltern und verantwortliche Personen sind laut Europol etwa, wenn sich Kinder in Bezug auf Online-Aktivitäten geheimnistuerisch verhalten, wenn sie sich zurückziehen und isolieren, wenn sie dauerhaft emotional belastet wirken, Interesse an schädlichen Inhalten oder gar körperliche Anzeichen von Selbstverletzung zeigen.
Es kursieren aber auch viele Horror-Geschichten, die sich beim genaueren Hinsehen als Falschmeldungen entpuppen. Während es bei der sogenannten "Blue-Whale-Challenge" wohl tatsächlich einige Todesfälle gab, hält die anfangs genannte Zahl von 130 Todesfällen einer genauen Überprüfung nicht stand. Die Challenge soll Jugendliche über 50 Tage hinweg mit immer extremeren Aufgaben manipuliert haben - von Schlafentzug bis hin zur Selbstverletzung - und schließlich in den Suizid getrieben haben. Allerdings gibt es keine gesicherten Beweise dafür, dass sie in großem Umfang real existierte. Viele Fälle scheinen auf Panikmache oder Falschmeldungen zurückzugehen. Auch panische Berichte über eine "Momo-Challenge", bei der Droh-Kettenbriefe via WhatsApp verschickt worden sein sollen, sind vermutlich zum größten Teil ein Fake.
Besonders im Visier der Europol-Ermittler sind Gruppen, die aus dem rechtsextremen Spektrum stammen oder in Verbindung mit gewalttätigen Ideologien stehen, etwa islamistische Terroristen oder die eingangs aufgeführte Gruppe 764. EU-Behörden haben mehrere Fälle dokumentiert, in denen Mitglieder schwere Körperverletzungen und sogar Morde begangen haben - oft gegen Familienangehörige oder zufällige Passanten. Um ein Spiel geht es in diesen Kontexten dann nicht mehr: Führungsfiguren dieser Gruppen wollen nichts weniger als den Zusammenbruch der modernen Gesellschaft erreichen - durch Terror, Chaos und Gewalt.
Quelle: ntv.de