Gefährlich, fanatisch, geheim? Warum das Wort "Sekte" oft mehr schadet als hilft


Am 20. März 1995 vergiftet die Aum-Sekte Menschen in der Tokioter U-Bahn. Der Anschlag soll die Apokalypse, an die die Mitglieder glauben, auslösen oder wenigstens beschleunigen.
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Wer eine Gruppe als "Sekte" bezeichnet, spricht ein deutliches Urteil über sie. Dabei war das Wort früher völlig neutral. Heute ist es ein Synonym für Wahnsinn, Fanatismus und Gefahr. Das Problem: Es gibt tatsächlich gefährliche Gruppen.
Schon der Klang des Wortes "Sekte" ruft bei vielen Menschen ein Unbehagen hervor. Vor dem inneren Auge tauchen Bilder auf von entrückten Gurus, fanatischen Anhängern und tragischen Massensuiziden - allen voran Ereignisse wie in Jonestown im Jahr 1978, wo mehr als 900 Mitglieder dem Prediger Jim Jones in den Tod folgten.
Oder an die Aum-Sekte in Japan, deren Giftgasanschlag in Tokio 1995 mit mehreren Toten weltweit Entsetzen auslöste. Solche Extremfälle haben dazu beigetragen, dass "Sekte" im allgemeinen Sprachgebrauch zu einem Synonym für gefährliche, wahnsinnige Gruppen geworden ist. Doch stimmt dieses Bild? Und warum gehen Religionswissenschaftlerinnen und Soziologinnen heute viel vorsichtiger mit diesem Begriff um?
Spannend ist dabei die Beobachtung, dass "Sekte" ursprünglich gar kein negativ besetztes Wort war. Der Begriff stammt vom lateinischen secta ab, was so viel bedeutet wie "Richtung" oder "Gefolgschaft". In der Antike konnte damit eine philosophische Schule, eine politische Gruppe oder auch eine juristische Lehrmeinung gemeint sein. Erst im religiösen Kontext wandelte sich die Bedeutung: Frühchristliche Autoren verwendeten secta als Gegenstück zur "wahren" Lehre und stempelten Abweichler als Ketzer ab, häufig verbunden mit Verfolgung und Ächtung.
Zwischen Pauschalurteil und Stigma
Heute sind sich Fachleute weitgehend einig: Der Begriff "Sekte" ist problematisch. Vor allem deshalb, weil er pauschal abwertet und unscharf ist. Denn: Was genau ist denn eine Sekte? Eine kleine Religionsgemeinschaft? Eine gefährliche Gruppe? Geht es um inhaltliche Differenzen zu einer etablierten Religion? Die Antworten darauf fallen höchst unterschiedlich aus - und genau das ist das Problem. "Sekte" ist kein wertneutraler Begriff und schon gar keine wissenschaftliche Kategorie mit klar definierten Merkmalen. Vielmehr schwingen immer Wertungen mit. Wer das Wort benutzt, urteilt meist schon, bevor er beschreibt.
Zudem wirft der Ausdruck "Sekte" sehr ungleiche Phänomene undifferenziert in einen Topf. Es gibt religiöse Kleinstgruppen, die vollkommen friedlich sind und einfach einen alternativen Glauben leben. Und es gibt destruktive, autoritäre Kulte, in denen Ausbeutung, Zwang und Gewalt herrschen. Beide als "Sekte" zu bezeichnen, wird keinem gerecht. Die pauschale Verwendung des Begriffs verschleiert also mehr, als sie erhellt.
Und schließlich ist da noch die Perspektive der Betroffenen. Aus Sicht der so bezeichneten Gruppen ist "Sekte" ein Schimpfwort, gegen das sie sich wehren. Sie fühlen sich an den Pranger gestellt - als gefährliche Spinner abgestempelt, ohne dass ihre eigene Sicht wahrgenommen würde. Das ist vor allem dann problematisch, wenn es darum geht, in den Dialog mit solchen Gruppen zu treten. Wer sein Gegenüber von vorneherein vor den Kopf stößt oder abwertet, verbaut schnell die Chance, überhaupt gehört zu werden.
Neue Namen, neue Probleme
Die Religionswissenschaft hat unter anderem aus all diesen Gründen in den letzten Jahrzehnten einige Alternativen vorgeschlagen. Am gebräuchlichsten ist der Begriff "Neue religiöse Bewegung". Er kam in den 1980er Jahren auf, um die wachsende religiöse Vielfalt wertneutral zu fassen. Darunter fallen ganz unterschiedliche Gruppen - vom esoterischen Meditationszirkel bis zur neureligiösen Gemeinschaft wie Bhagwan/Osho oder Scientology. "Neue religiöse Bewegungen" ist sperriger als "Sekten", hat aber den Vorteil, nicht per se negativ zu sein.
Allerdings ist auch dieser Begriff nicht perfekt. Denn was heißt "neu"? Einige "neue" Bewegungen greifen auf uralte spirituelle Lehren zurück, andere spalten sich von etablierten Kirchen ab. Und "Bewegung" suggeriert vielleicht eine Dynamik oder Größe, die nicht immer da ist. Dennoch hat sich der Ausdruck im akademischen Diskurs weitgehend durchgesetzt, weil er zumindest den verurteilenden Ton rausnimmt. Ähnlich neutral sind Begriffe wie "religiöse Sondergemeinschaft" oder "Alternativreligion", die manchmal verwendet werden.
Manchmal gehen Fachleute auch den Weg, sachlicher zu spezifizieren, was sie meinen: Etwa von "konfliktträchtigen religiösen Gruppen" zu sprechen, wenn es tatsächlich schwere Spannungen mit dem Umfeld gibt, oder von "Hochkontrollgruppen", wenn das Innenleben der Gemeinschaft durch rigide Regeln und Kontrolle geprägt ist. Letzteres Schlagwort wird beispielsweise für die südkoreanische Bewegung Shincheonji verwendet, die aktuell immer wieder in den Schlagzeilen ist - eine christliche Sondergruppe, die in Gemeinden infiltriert und Mitglieder strikt überwacht. Solche Begriffe versuchen, das spezifische Problem zu benennen (hier die strenge Kontrolle), anstatt mit "Sekte" nur ein diffuses Unbehagen auszudrücken. Je nach Kontext kann auch von "destruktiven Kulten" oder "totalitären Gruppen" die Rede sein, wenn etwa Gewalt und Machtmissbrauch im Vordergrund stehen.
Was die Wissenschaft dazu sagt
Die Distanz vieler Expertinnen und Experten zum Begriff "Sekte" kommt also nicht von ungefähr. Religionswissenschaft und Soziologie befassen sich seit langem mit religiösen Gemeinschaften und plädieren für Nüchternheit und Differenzierung. Diese Differenzierung ist aber anstrengend, denn sie bedeutet, dass man genau hinschauen muss. Es gibt in der Tat Kriterien, die eine Gemeinschaft problematisch machen - in unterschiedlichen Dimensionen.
Zu diesen Kriterien gehören zum Beispiel: absolute Wahrheitsexklusivität, also die Behauptung, nur die eigene Lehre sei richtig; charismatische Führungsfiguren, die kaum hinterfragt werden dürfen; Abschottung von der Außenwelt und der Abbruch sozialer Kontakte; strikte Verhaltensregeln bis hin zur Kontrolle über Privatleben, Sexualität und Geld; sowie Angst- oder Schuldmechanismen, durch die Mitglieder in der Gruppe gehalten werden. Auch Aussteigerfeindlichkeit - etwa das systematische Abwerten oder Meiden ehemaliger Mitglieder - ist ein typisches Warnsignal. Diese Kriterien finden sich in unterschiedlicher Ausprägung auch in politischen, esoterischen oder therapeutischen Gruppierungen wieder. Es geht also nicht nur um Religion und Glauben, sondern um Machtstrukturen und soziale Kontrolle.
Doch auch diese Kriterien sind kein Messgerät, mit dem man eine Gruppe sofort als "Sekte" klassifizieren könnte. Sie zeigen vielmehr: Es geht nicht um das Etikett, sondern um das Verhalten. Manche Gruppen erfüllen mehrere dieser Merkmale und sind dennoch nicht gewalttätig oder kriminell. Andere tarnen sich gut - und hinter einer harmlosen Fassade lauern Manipulation und Missbrauch.
Medienhype und Realität
Vor diesem Hintergrund ist die Frage berechtigt: Warum hält sich das Wort "Sekte" im allgemeinen Sprachgebrauch so hartnäckig? Ein wichtiger Faktor sind sicher die Medien. Schlagzeilen lieben klare Wörter und starke Emotionen. "Sekte" liefert beides. Das ist für journalistische Zuspitzungen natürlich verlockend. So wurden in den 1990er Jahren echte Tragödien weltweit ausgeschlachtet und prägten das Bild der "typischen Sekte". Beispiele gibt es zuhauf: 1993 starben in Waco, Texas, mehr als 70 Mitglieder der Branch Davidians bei einer Katastrophe nach einer FBI-Belagerung - ein "Sekten-Drama". 1994/95 nahmen sich Mitglieder des Sonnentempler-Ordens in der Schweiz und Kanada in einem bizarren Ritual das Leben - schon war von der "Selbstmord-Sekte" die Rede. 1997 folgte der Massensuizid der UFO-Gruppe Heaven's Gate in Kalifornien - auch diese Gruppe wurde zur "Selbstmord-Sekte".
Diese Ereignisse, jedes für sich genommen furchtbar und außergewöhnlich, wurden im öffentlichen Bewusstsein zu einem Klischee: Sekten sind gefährlich und enden immer in Wahnsinn oder Tod. Medienberichte verallgemeinern jedoch oft das, was eigentlich Ausnahmefälle sind. Die allermeisten neuen religiösen Gruppen existieren nämlich, ohne dass je eine Gewalttat oder ein Verbrechen geschieht. Doch darüber gibt es keine großen Schlagzeilen. Und so entsteht ein verzerrtes Bild der Realität, in dem jede nicht-traditionelle Glaubensgemeinschaft erstmal verdächtig erscheint.
Wann der Begriff noch gerechtfertigt sein kann
Bedeutet all das nun, man dürfe niemals von "Sekten" sprechen? Nein. Auch hier lohnt ein Blick auf die genannten Extremfälle. Denn natürlich gibt es leider Gruppen, die so drastisch und verheerend agieren, dass die meisten Menschen instinktiv von einer Sekte sprechen würden - und das zurecht. Wenn eine Gemeinschaft ihre Mitglieder vollkommen isoliert, psychisch und physisch misshandelt und sogar in den Tod treibt, drängt sich der Sektenbegriff als Warnsignal auf.
Ein Beispiel der Gegenwart ist der Fall des kenianischen Predigers Paul Nthenge Mackenzie. Er gründete die Bewegung "Good News International" - in den Medien als Hungersekte bekannt geworden. Mackenzie forderte seine Anhänger auf, zu fasten bis zum Tod, um Jesus zu begegnen. Die grausige Bilanz: Über 400 Menschen verhungerten oder wurden getötet, bevor die Polizei 2023 das Camp im Shakahola-Wald aushob. Hier scheut man den Begriff nicht - zu eindeutig sind die kriminellen und zerstörerischen Handlungen.
Gerade Extremfälle wie dieser zeigen jedoch auch: Der Sektenbegriff allein erklärt nichts. Er dient hier vor allem als Alarmzeichen - er signalisiert: Achtung, hier passieren womöglich gefährliche Dinge!
Doch um die Mechanismen zu verstehen, um zu erkennen, was vor sich geht, muss man genauer hinschauen. Warum gehorchten Jim Jones' Anhänger ihm bis in den Tod? Wieso ließen sich Hunderte Kenianer von Mackenzie in den Hungertod schicken? Diese Fragen beantwortet das Etikett "Sekte" ebenso wenig wie die Frage, was man tun muss, um solchen Verbrechen künftig vorzubeugen. Hier müssen wiederum Soziologie, Psychologie und Kriminologie ins Detail gehen: Es geht um Manipulation, charismatische Macht, Gruppendruck, soziale Isolation und oft genug um verzweifelte Sinnsuche, die ausgenutzt wird.
Im öffentlichen Diskurs hat sich eingebürgert, dass man in solchen Extremfällen durchaus von "Sekten" redet, einfach weil jeder sofort weiß, dass hier etwas sehr Gefährliches, destruktives gemeint ist. Aber: Diese Ausnahmen dürfen nicht zur Regel werden, weil der Begriff sonst völlig nichtssagend ist. Ja, es gibt sie - die destruktiven, totalitären Gemeinschaften, bei denen das Klischee bittere Realität ist. Aber sie sind selten. Für die Mehrheit der neuen religiösen Gruppen wäre das Label eine ungerechte Verzerrung. Die Herausforderung besteht also darin, einerseits klar zu benennen, wo echte Gefahr herrscht, andererseits aber nicht pauschal alles Fremde zu dämonisieren.
Vielleicht wird der Begriff "Sekte" eines Tages ganz aus unserem Wortschatz verschwinden, ersetzt durch präzisere Beschreibungen. Bis dahin gilt: so wenig wie möglich, so spezifisch wie nötig.
Quelle: ntv.de