Panorama

"Wollte seiner Familie helfen" Dramé-Bruder: "Er wurde getötet wie ein Tier"

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William Dountio, Sidy Dramé, Lassana Dramé (v.l.n.r.) mit einem Bild ihres getöteten Bruders.

William Dountio, Sidy Dramé, Lassana Dramé (v.l.n.r.) mit einem Bild ihres getöteten Bruders.

(Foto: S. Uersfeld)

Bevor die beiden Brüder des in der Dortmunder Nordstadt getöteten Mouhamed Dramé im Gerichtssaal auf die fünf Angeklagten treffen, äußern sie sich in einer Presserunde. Vom Schmerz gezeichnet beteuern sie die Unschuld des 16-Jährigen und klagen die Polizei mit deutlichen Worten an.

Als die Angeklagten um den Todesschützen Fabian S. und den Dienstgruppenleiter Thorsten H. in Saal 130 des Dortmunder Landgerichts geführt werden, röten sich die Augen von Sidy Dramé. Der 37-Jährige kauert in eine dicke Daunenjacke gehüllt in seinem Stuhl auf der Seite der Nebenklage. Mit seinem Schal wischt er sich kurz durchs Gesicht, dann richtet sich sein Blick wieder auf die gegenüberliegende Seite. Dort erscheint nun auch das Gesicht von Fabian S., das bis dahin von einem braunen Pappkarton verdeckt war.

Fabian S., Thorsten H. und drei weitere Polizisten müssen sich für den Tod von Mouhamed Laime Dramé verantworten. Der 16-Jährige verstarb am 8. August 2022 durch Schüsse aus der Maschinepistole des Polizisten Fabian S., der Sidy und seinem Bruder Lassana jetzt gegenübersitzt. Der Schmerz ist den beiden Brüdern anzusehen. Die Blicke der Angeklagten sind nicht so leicht zu erklären. Ihre Gefühlswelt bleibt verborgen.

"Fassaden, die an uns vorbeischauen", wird die Anwältin der Nebenklage Lisa Grüter später sagen und der Verteidiger des Todesschützen, der Dortmunder Rechtsanwalt Christoph Krekeler, die Betroffenheit seines Mandanten herausstellen. Er habe auf beiden Seiten des Gerichtssaals tiefe Trauer und Betroffenheit gesehen.

Seit dem 19. Dezember 2023 wird der vollkommen aus dem Ruder gelaufene Polizeieinsatz in einer Dortmunder Jugendhilfeeinrichtung am Landgericht in der Ruhrgebietsmetropole verhandelt. Fünf Schüsse aus einer Maschinenpistole töten den 16-Jährigen, kaum 20 Minuten nach Eingang des Notrufs. Vorher wurde er erst angesprochen, dann mit Pfefferspray überzogen und mit zwei Tasern beschossen. Fünf Polizisten müssen sich dafür nun am Dortmunder Landgericht verantworten. Die Anklagen lauten auf Totschlag, Anstiftung und gefährliche Körperverletzung.

Am Tag zuvor hat Sidy Dramé seine Hände ineinander gefaltet. Er trägt einen schwarzen Kapuzenpullover, auf dem das verwaschene Wort "Angel", Engel, zu lesen ist. Sein Bruder, Lassana, hat den Kopf gesenkt. Einige Kameras sind auf sie gerichtet. Im Hintergrund, ein Stockwerk unter dem Fenster, befindet sich in diesem östlichen Dortmunder Vorort eine dieser Ausfallstraßen deutscher Großstädte, auf denen niemals Ruhe herrscht.

Straßenbahnen und aufheulende Motoren bilden den Klangteppich für das Mediengespräch mit Sidy und Lassana Dramé. Beide sind als Vertreter ihrer Familie aus ihrem kleinen senegalesischen Dorf in das Ruhrgebiet gereist, um als Nebenkläger an dem Prozess gegen fünf Polizisten am Dortmunder Landgericht teilzunehmen. An diesem Tag in der Anwaltskanzlei steht ein Bild ihres Bruders vor ihnen. Es ist das, was jeder, der jemals über Mouhamed Dramé gehört hat, kennt. Es war auf Plakaten abgebildet, auf Bannern, auf Aufklebern und in den Medien. Es ist das, was in Deutschland von ihrem Bruder geblieben ist.

Eine einzige öffentliche Äußerung

Daneben die beiden Anwälte der Nebenklage, Lisa Grüter und Thomas Feltes. In der Mitte der Dolmetscher, Moustapha Timera. Er sitzt in ihrer Mitte, übersetzt die Fragen der Anwesenden auf Wolof. Es ist die Umgangssprache in Senegal. Auch dabei ist William Dountio, der Verbindungsmann der Familie nach Deutschland. Er hat mit dem Solidaritätskreis Justice 4 Mouhamed immer wieder auf das Schicksal des Getöteten aufmerksam gemacht und Spenden gesammelt. Diese ermöglichten die Reise von Sidy und Lassana. Die beiden Brüder werden sich nur in diesem Rahmen einmal öffentlich äußern. Sie sollen vor zu viel Öffentlichkeit geschützt werden.

"Er wollte seiner Familie helfen", sagt Sidy. Noch im letzten Gespräch am Sonntag vor seinem gewaltsamen Tod hätten sie über das Leben gesprochen und über das, was sein könnte. "Wenn ich etwas schaffe", habe er gesagt, "werde ich euch helfen." Am Montag dann starb Mouhamed. Von seinem Tod erfuhr die Familie am Ende der Woche. Erst hätten sie es für eine Falschmeldung gehalten, sagen sie. Doch dem war nicht so. Mit der Familie Dramé trauerten die umliegenden Dörfer, trauerte bald das ganze Land, erzählen sie.

Es war der Tag, an dem Mouhamed nach einem kurzen Aufenthalt in einer Klinik wieder zurück in die Einrichtung in der Dortmunder Nordstadt gekommen war. In die LWL-Klinik ging er mit psychischen Problemen, hatte sich dort von akuter Eigen- und Fremdgefährdung distanziert und war wieder entlassen worden.

"Gut in Europa angekommen"

Von seinen mentalen Problemen habe er in diesem letzten Telefonat nichts erzählt, sagen Sidy und Lassana Dramé. Was auf den ersten Blick befremdlich wirken mag, ist ein normales Verhalten bei Geflüchteten. Sie erzählen selten von ihrem Leid, tragen das auf der Flucht Erlebte mit sich, öffnen sich erst langsam und meist nicht ihrer Familie. "Für uns war nur wichtig, dass er gut in Europa angekommen ist", erzählt Sidy Dramé und Lassana ergänzt, dass Mouhamed im Senegal keine Perspektive mehr für sich gesehen habe. Deswegen sei er aufgebrochen.

Am Ende seiner Flucht nach Europa steht jedoch keine Perspektive, sondern der Tod. Er kommt nur wenige Minuten, nachdem die Mitarbeiter einer Hilfseinrichtung in der Dortmunder Nordstadt Mouhamed nach vorn übergebeugt mit einem Messer gegen sich selbst gerichtet in einem Kirchhof finden und die Polizei zu Hilfe rufen.

"Warum haben sie nicht auf seine Beine geschossen? Warum haben sie nicht auf seine Beine geschossen? Warum haben sie nicht abgewartet?", fragt Sidy Dramé in der Kanzlei an der Ausfallstraße im Dortmunder Osten. Dabei erhebt sich seine Stimme zum einzigen Mal, er gestikuliert, sein Schmerz nimmt den ganzen Raum ein, drängt sich über den Lärm der Straße. Es ist der Moment, an dem offen zutage tritt, wie sehr der Tod in Deutschland die Familie schockiert hat. "Unser Bruder ist unschuldig getötet worden. Wir wissen, dass in Deutschland Tiere wie Menschen behandelt und geschützt werden. Er wurde als Mensch anders behandelt", übersetzt der Dolmetscher. "Er ist getötet worden wie ein Tier." Danach senkt sich die Stimme von Sidy Dramé wieder.

"Kennen keine Angst"

Die Familie Dramé stammt nach eigenen Angaben aus einem kleinen Dorf mit rund 100 Bewohnern. "Für Menschen, die in einem Dorf leben, sind Menschen diejenigen, um die man sich sorgfältig und mit Geduld kümmert. Das hat für die Familie in der Geschichte von Mouhamed gefehlt", erklärt William Dountio, der engste Vertraute der Dramés in Deutschland. Er sitzt mit am Tisch und filtert wie auch die Anwälte der Nebenklage, Feltes und Lisa Grüter, die Fragen. Nicht jede wird übersetzt, um die Angehörigen nicht noch mehr aufzuwühlen und zu schützen. Auch, wenn sie betonen, dass sie "keine Angst" kennen. Niemand kann wissen, was diese Reise nach Dortmund mit ihnen macht, und noch kann niemand erahnen, in welche Richtung der Prozess steuern wird.

Der Vorsitzende Richter Kelm verliest am heutigen Mittwoch, wie am dritten Verhandlungstag angekündigt, nur Einsatz- und Spurenberichte. Nach kaum einer Stunde ist es vorbei. Doch an diesem Tag sind ohnehin alle Augen auf die Brüder Dramé gerichtet, die zum ersten Mal auf die Personen treffen, die das Leben von Mouhamed nur wenige Tage nach seinem Eintreffen in Dortmund beendeten. Warum sie dies taten, bleibt bis zum Urteil unklar. Vielleicht sogar darüber hinaus.

Das Verfahren am Dortmunder Landgericht hat bislang noch keine Antworten liefern können. Dafür ist es noch viel zu früh. Am 21. Februar, dem dann fünften Verhandlungstag, sollen die am dritten Verhandlungstag unterbrochenen Befragungen zweier Zeugen fortgesetzt werden. Die beiden Mitarbeiter der Einrichtung in der Dortmunder Nordstadt sind die bislang einzigen Zeugen, die vernommen wurden. Zwei weitere Zeugen aus der Einrichtung werden dann ebenfalls aussagen.

Die Brüder Dramé werden sich an den kommenden Verhandlungstagen nicht mehr zu dem Ereignis äußern, sie könnten jedoch noch als Zeugen vernommen werden. Die Visa sind für 90 Tage gültig. Der auf zehn Verhandlungstage angesetzte Prozess sollte ursprünglich am 17. April 2024 enden. Am heutigen Mittwoch wurde klar, dass der Prozess sich noch bis in den Juli strecken könnte.

Quelle: ntv.de

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