Fünf Schüsse auf Mouhamed Dramé Der unmenschliche Druck auf den Zeugen P.


Der Vorsitzende Richter Thomas Kelm.
(Foto: IMAGO/Revierfoto)
Unter der Woche geht der Prozess gegen fünf Polizisten am Dortmunder Landgericht weiter. Sie müssen sich für den Tod eines 16-jährigen Senegalesen verantworten. Am dritten Verhandlungstag werden die ersten Zeugen befragt. Der Tag ist kurz, ein Zeuge bricht unter dem Druck der Befragung zusammen.
Was der gewalttätige Tod eines Menschen durch die Kugeln einer Maschinenpistole mit denen macht, die es beobachten, war in dieser Woche bei dem Prozess gegen fünf Polizisten am Dortmunder Landgericht zu sehen. Die Stimme von Moritz P. stockt am Mittwoch im Saal 130 des Dortmunder Landgerichts. Die Erinnerungen überwältigen ihn.
Der 30-jährige Sozialarbeiter durchlebt noch einmal das, was er am 8. August 2022 mitansehen musste. Als Staatsanwalt Carsten Dombert ihn endlich fragt, was denn überhaupt mit ihm los sei, bricht er kurz zusammen. Er müsse "eines der schlimmsten Erlebnisse meines Lebens" noch einmal durchleben. Er sei jetzt wieder "voll drin". Der Druck für ihn bei seiner Aussage sei enorm. Die Befragung des Zeugens wird an diesem dritten Befragungstag abgebrochen, sie soll im Februar weitergeführt werden. Dann soll er einen Zeugenbeistand erhalten. Zu mitgenommen ist er nach dieser Befragung.
"Das ist meistens ein Strafverteidiger, der eine gewisse Schutzfunktion übernehmen kann. Er kennt die Abläufe im Gericht, er kann das Verfahren in einigen Momenten beruhigen. Für einen Zeugen ist eine Befragung eine außergewöhnliche Situation", erklärt die Strafverteidigerin Manon Heindorf, die allerdings nicht in den Prozess involviert ist, zum Hintergrund des Vorgangs mit einem Beistand im Gespräch mit ntv.de. "Er weiß zum Beispiel nicht, wann eine Befragung aus dem Ruder läuft und wenn der Zeuge sich möglicherweise selbst belastet."
Fünf Polizisten müssen sich für den Tod des 16 Jahre jungen Senegalesen Mouhamed Dramé verantworten. Der 30-jährige Fabian S. ist wegen Totschlags angeklagt. Die 31 Jahre alte Jeannine Denise B., die 29 Jahre alte Pia Katharina B. und der 34-jährige Markus B. müssen sich wegen gefährlicher Körperverletzung im Amt durch den ungerechtfertigten Einsatz von Pfefferspray und Tasern verantworten. Dem 55-jährigen Dienstgruppenleiter Thorsten H. wird Anstiftung zu den gefährlichen Körperverletzungen im Amt vorgeworfen.
Ein Prozess von historischer Dimension
Zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs stehen bei einem Prozess gleich fünf Polizisten wegen eines Tötungsdelikts vor Gericht. Doch der Dortmunder Prozess steht nicht allein. Parallel wird dazu in Mannheim der "Markplatz-Prozess" geführt. Im Südwesten der Republik geht es um den Tod eines 47-Jährigen, der am 2. Mai 2022 im Rahmen eines Polizeieinsatzes nach einem Pfefferspray-Einsatz verstorben war. In Baden-Württemberg stehen zwei Polizisten vor Gericht.
"Entweder verfolgen die Staatsanwaltschaften diese Vorfälle nun schärfer oder der NRW-Innenminister Herbert Reul hat recht und die Polizei ist robuster geworden", sagt Strafverteidiger Thomas Feltes vor dem Beginn des Prozesstages. In einem internen Papier aus dem NRW-Innenministerium hieß es Ende der 2010er Jahre, die Polizei müsse "an Robustheit deutlich zulegen" und "durchsetzungsstark und damit gewaltfähig" werden.
"Es wurde Druck auf ihn ausgeübt"
Kurz bevor der Zeuge P. an diesem dritten Prozesstag in Dortmund nicht mehr aussagen kann, stehen und sitzen 15 Prozessbeteiligte um den Richtertisch im Saal 130. Richter, Schöffen, Verteidiger, die Nebenklage, die Staatsanwaltschaft und der 30-Jährige. Sie gehen eine Lichtbildmappe durch, in der neben Bildern vom Einsatzort immer wieder auch bei der Obduktion entstandene Fotos zu sehen sind. Ob P. diese wahrnimmt, ist nicht klar. Er soll dem Vorsitzenden Richter auf den Tatortbildern zeigen, wo an diesem Tag wer gestanden hat.
Dabei hatte er schon vorher immer wieder betont, dass die Sache nun anderthalb Jahre her sei. "Wo waren die anderen?", fragt ihn der Vorsitzende Richter Kelm immer wieder und dann: "Sagen Sie doch einfach: 'Ich weiß es nicht'". Immer mehr Details möchten Richter und Verteidigung aus ihm herauspressen. Doch P. ist überwältigt, von dem, was ihn wieder eingeholt hat. Rechts über ihm hängt ein riesiger Monitor. Dieser bleibt Schwarz. Nur deswegen sieht sich P. einer Menge ausgesetzt, die Lisa Grüter, die Anwältin der Nebenklage, nach dem Prozesstag aufgrund ihrer Kleidung als "Pinguine" bezeichnet und die von allen Seiten auf ihn einwirken. "Es wurde Druck auf ihn ausgeübt, zudem noch ziemlich ineffektiver Druck", sagt Grüter.
Mit einem am Ende erfolglosen Antrag hatte die Nebenklage zu Beginn des Tages auch versucht, eine derartige Situation auszuschließen. Sie forderten sämtliche bildliche Beweismittel mithilfe technischer Geräte auch der Öffentlichkeit im Gerichtssaal zugänglich zu machen. Die Öffentlichkeit, das sind die Vertreter der Medien und das sind die Zuschauer, die die Sitzreihen erneut bis auf den letzten Platz füllen. Sie warten in der Januar-Kälte schon lange vor Beginn des Prozesstages vor einer Hintertür des Dortmunder Landgerichts. Ihr Einlass dauert. Alle müssen durch eine Sicherheitsschleuse.
Nur zwei von fünf Zeugen sagen aus
So beginnt der Tag ohnehin schon mit einiger Verzögerung, als nach dem Antrag der Nebenklage und einer Verhinderung eines der Verteidiger eine fast zweistündige Prozesspause bis 12 Uhr angeordnet wird. Der Verteidiger muss in einem anderen Prozess ein Plädoyer halten. Der Vorsitzende Richter Thomas Kelm ist darüber wenig erfreut. Der dritte Prozesstag muss um 15 Uhr enden, da im Saal 130 dann die nächste Verhandlung ansteht. Zwei als Zeugen geladene Polizisten werden abbestellt. Sie sollen, wie auch ein an der Obduktion beteiligter Rechtsmediziner, zu einem späteren Zeitpunkt gehört werden. Es bleiben zwei Mitarbeiter aus der Jugendhilfeeinrichtung, in dessen Hof sich die tödlichen Schüsse ereignet haben. Moritz P. und Alexander G., der 33-jährige Einrichtungsleiter. Der hatte den Notruf abgesetzt, der den Polizeieinsatz auslöste.
Stunden später, es ist ungefähr 14 Uhr, ist es für den Zeugen P. wieder Montag, der 8. August 2022. Nach einer Hitzewelle in der Woche zuvor ist es mit 26 Grad angenehm warm. Für P. ist wieder der Tag, an dem in der Jugendhilfeeinrichtung in der Dortmunder Nordstadt ein Polizeieinsatz derart aus dem Ruder läuft, dass Dramé tödlich getroffen aus den Kugeln der Maschinenpistole im Krankenhaus verstirbt.
Er schildert, wie sie nach dem Hinweis eines Passanten Dramé auf dem Hof treffen und sehen, wie er sich mit freiem Oberkörper leicht nach vorn gebeugt ein Küchenmesser an den Bauch hält. P. steht auf und zeigt, in welcher Körperhaltung sie den Jugendlichen angetroffen haben. Er berichtet davon, wie Dramé auf eine Ansprache nicht reagiert habe und sie daher den Notruf gewählt hätten. Sie wussten, das sagt G., der Einrichtungsleiter, nicht einmal genau, ob sie bei der Polizei richtig waren. Das wären sie, habe der Beamte dann gesagt.
"Du bist unser Last Man Standing"
Der aus dem Senegal nach Europa Geflüchtete war erst wenige Tage in der Stadt im Ruhrgebiet. Der junge Geflüchtete sprach noch kein Deutsch. Sie verständigten sich per Hand und Fuß und mit ein paar Brocken Schulfranzösisch, erzählt der Sozialarbeiter. Den Sonntag vor dem Ereignis hatte Dramé zum Großteil in einer Klinik verbracht. Dramé, sagt P., habe fröhlich gewirkt in den ersten Tagen in Dortmund. Einrichtungsleiter G., der erst am 8. August aus seinem Urlaub zurückgekehrt war, sagt, man habe ihn als still und zurückhaltend wahrgenommen. Noch war es zu keinem Gespräch mit einem Dolmetscher gekommen. Dort hätte er mehr über sich verraten, mehr über die Einrichtung erfahren können.
Die Aussage von P. ist lange klar. Er schildert, wie er die Polizisten nach ihrem Eintreffen etwas entfernt von der Einrichtung in Empfang genommen hat. Er erzählt, wie die, die im Prozess, die "Uniformierten" heißen, sich vor dem Prozess besprochen hatten. Der Einsatzleiter gab ihnen den Plan vor. Erst solle eine Ansprache erfolgen, bei Ausbleiben einer Reaktion müsse ihm Pfefferspray diese entlocken und sonst gebe es noch die Taser. Dann habe sich der Einsatzleiter zum späteren Schützen gewandt und gesagt: "Sonst bist Du unsere letzte Chance. Dann bist Du unser Last Man Standing."
Irgendwann dann habe er den Befehl vernommen, der die Kette in Gang setze. Nach dem Pfefferspray-Einsatz sei Dramé dann "langsam und desorientiert" in Richtung der Polizisten, und somit auch in Richtung des einzigen Fluchtwegs gegangen. Dann sei der Einsatz des Tasers erfolgt und wenig später seien die Schüsse gefallen. Fünf Kugeln treffen den 16-jährigen. P. hört es nur, sieht es nicht, sagt er.
Zeuge berichtet von Tritt gegen tödlich getroffenen Dramé
Er habe sich bereits abgewendet, als der Taser Dramé, wie es in der Anklageschrift heißt, in Penis und Unterbauch trifft. Als Dramé vor "Schmerzen johlend" auf dem Boden liegt, soll er an den Händen fixiert worden sein und der Einsatzleiter habe dem Jugendlichen dann noch einen leichten Tritt in den Bauch verpasst, erinnert P. sich. "Wird alles gut", soll er dabei gesagt haben.
Die Angeklagten verfolgen den Prozess auch an diesem Mittwoch nahezu stoisch. Hin und wieder sieht man sie im Gespräch mit ihren Verteidigern, einmal unterhält sich der Schütze Fabian S. mit einem der Mitangeklagten. Die anderen drei Personen, zwei Frauen und der Dienstleiter Thorsten H. sitzen in deutlichem Abstand zu ihnen und hören den Ausführungen des Richters und der Zeugen zu.
Auch sie müssen noch einmal zurück zum Nachmittag des 8. August 2022, dem Tag, an dem sie zu einem Einsatz in die Jugendhilfeeinrichtung gerufen werden. Der eskaliert so schnell, dass die beiden Zeugen in ihren Ausführungen über die letzten Momente, über die Schüsse zwischen "superschnell" und "sehr schnell" wechseln und den vorgelesenen Tonbandaufzeichnungen des Notrufes zufolge eine unheilvolle Dynamik annehmen.
Ein Zivilpolizist mit Skateboard
Die Aufnahmen dokumentieren die rund 20 Minuten, die zwischen dem Eingehen des Notrufs durch den Einrichtungsleiter und den Schüssen liegen. Sie enden mit "schussähnlichen Geräuschen", den Worten von G.: "Ach, Du meine Güte" und einer kurzen Verabschiedung. In der Zwischenzeit steht G. am Fenster, schaut in den Hof, hält Kontakt mit den Mitarbeitern der Einrichtung, berichtet vom Eintreffen zweier Zivilpolizisten, einer davon mit einem Skateboard auf dem Rücken und dem dann bald eskalierenden Einsatz.
Als Dramé auf der Erde lag, habe G. etwas hören können, sagt er. "Die Beamten haben dann gesagt, er solle liegenbleiben", erinnert er sich. Dramé stand nie wieder auf. In diesen wenigen Minuten am 8. August endete ein Leben, etliche andere wurden für immer auf den Kopf gestellt.
Der Prozess wird am 31. Januar fortgesetzt. Der Zeuge P. soll am 21. Februar erneut vernommen werden. Bis zu einem Urteil gilt die Unschuldsvermutung.
Quelle: ntv.de