Panorama

Ruhrbischof fordert Reaktion Der Druck auf Benedikt wächst

Papst Benedikt XVI. während einer Messe in München im Jahr 2006.

Papst Benedikt XVI. während einer Messe in München im Jahr 2006.

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Das jüngste Gutachten zu sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche ruft bundesweit Entsetzen hervor. Der renommierte Kirchenrechtler Thomas Schüller bezichtigt den emeritierten Papst Benedikt XVI. der Lüge. Die katholischen Laien fordern den Staat auf, die Aufarbeitung des Skandals zu übernehmen, und auch die Justiz schaltet sich ein.

Das neue Gutachten zu sexuellem Missbrauch im Erzbistum München und Freising erschüttert die katholische Kirche. Betroffene erheben schwere Vorwürfe, und die Justiz prüft, ob kirchliche Verantwortungsträger sich womöglich strafbar gemacht haben.

Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck forderte konkrete Konsequenzen: "Wir sehen heute deutlich, dass Verantwortung übernommen werden muss - und Verantwortung ist immer personal", sagte er im ZDF. Dazu gehöre, "dass sich auch der Vatikan, dass sich auch Papst Benedikt dazu verhält".

Die katholischen Laien forderten den Staat auf, die Aufarbeitung des Missbrauchskandals in der Kirche zu übernehmen. Die Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Irme Stetter-Karp, sagte im RBB, sie glaube "nicht mehr, dass die Kirche allein die Aufarbeitung schafft". Es müsse die Frage gestellt werden, ob es nicht ein besserer Weg wäre, wenn es "im Sinne der Unabhängigkeit der Aufarbeitung" mehr Einfluss durch die Politik gebe. Dies könne über "einen Ausschuss im Parlament, über eine Kommission, über eine Wahrheitskommission" erfolgen.

Die ZdK-Präsidentin zeigte sich ernüchtert von den Ergebnissen des Münchner Gutachtens. "Es ist offensichtlich, dass auch im Jahr 2022 die bittere Realität heißt: Das System von Vertuschung, Vergessen und schneller Vergebung gegenüber den Tätern ist nicht aufgebrochen worden." Mit Blick auf den sogenannten synodalen Weg von Klerus und Laien forderte sie von der nächsten Synodalversammlung klare Voten für ein Ende des Machtmissbrauchs in der Kirche. "Es ist höchste Zeit, dass Betroffene zu Beteiligten gemacht werden", sagte Stetter-Karp.

Justiz untersucht 42 Fälle

Die Staatsanwaltschaft München I untersucht derzeit 42 Fälle von mutmaßlichem Fehlverhalten kirchlicher Verantwortungsträger, sagte die Sprecherin der Behörde, Anne Leiding. Die Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW), die das aufsehenerregende Urteil im Auftrag des Bistums verfasst hat, habe der Staatsanwaltschaft im August 2021 "41 Fälle zur Verfügung gestellt", sagte Leiding - und einen weiteren Fall im November 2021. "Sie betreffen ausschließlich noch lebende kirchliche Verantwortungsträger und wurden stark anonymisiert übermittelt."

Sollten sich auf dieser Basis "Verdachtsmomente hinsichtlich eines möglicherweise strafrechtlich relevanten Verhaltens der kirchlichen Verantwortungsträger ergeben", würden die entsprechenden Unterlagen bei der Kanzlei angefordert und gegebenenfalls an die zuständigen Staatsanwaltschaften weitergegeben, so Leiding. "Welche strafrechtlichen Normen verletzt wurden, ist noch Gegenstand der Prüfung."

Schwere Vorwürfe gegen Papst Benedikt

Das vom Erzbistum München und Freising selbst in Auftrag gegebene Gutachten kommt zu dem Ergebnis, dass Fälle von sexuellem Missbrauch in der Diözese über Jahrzehnte nicht angemessen behandelt wurden. Weiter wirft es den ehemaligen Erzbischöfen Friedrich Wetter und Joseph Ratzinger, dem heute emeritierten Papst Benedikt XVI., konkret und persönlich Fehlverhalten in mehreren Fällen vor. Auch dem aktuellen Erzbischof, Kardinal Reinhard Marx, wird formales Fehlverhalten in zwei Fällen vorgeworfen. Von mindestens 497 Opfern und 235 mutmaßlichen Tätern sprechen die Gutachter, gehen aber von einem deutlich größeren Dunkelfeld aus.

Besonders brisant ist die Rolle Ratzingers. Denn die Gutachter gehen davon aus, dass er aller Wahrscheinlichkeit nach nicht die Wahrheit gesagt hat.

Der renommierte Kirchenrechtler Thomas Schüller wird deutlicher: "Er hat eindeutig gelogen", sagte er in der ARD. Benedikt hatte immer wieder betont, an einer Sitzung im Jahr 1980 nicht teilgenommen zu haben, in der beschlossen wurde, dass ein Priester, der im Bistum Essen Jungen missbraucht hatte, nach Bayern versetzt werden soll. Ratzinger war von 1977 bis 1982 Erzbischof von München und Freising.

Die Kanzlei WSW legte ein Protokoll vor, wonach Ratzinger - anders als von ihm behauptet - durchaus an der Sitzung teilgenommen hatte. "Der Reputationsschaden für Benedikt ist groß, gerade weil er sich bisher stets als Kämpfer gegen sexuellen Missbrauch in der Kirche gezeigt hatte", sagte der katholische Theologe Daniel Bogner. Ratzingers Teilnahme an der Sitzung sei belegt, "weil das Protokoll Dinge referiert, die nur er wissen kann aus einem Gespräch mit Papst Johannes Paul II.", betonte Schüller in der ARD. Dass es bei diesem Gespräch ausgerechnet um die Entziehung der Lehrerlaubnis für Ratzingers langjährigen liberalen Widersacher, den Theologen Hans Küng, ging, nannte Schüller einen "Treppenwitz der Geschichte".

"Er möchte heute nicht die Wahrheit sehen"

"Er möchte heute nicht die Wahrheit sehen, sondern er leugnet sie und versucht, alle Verantwortung von sich zu schieben und dadurch brüskiert er die Opfer ein zweites Mal", kritisierte Schüller den emeritierten Papst. Der heutige Münchner Erzbischof, Kardinal Reinhard Marx sei da schon weiter. "Er hat wirklich kapiert jetzt, dass er sich auf die Seite der Opfer zu stellen hat", sagte Schüller. "Ob es zu spät kommt, werden wir sehen."

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Die Betroffene Agnes Wich sieht Marx' Rolle dagegen anders und kritisierte scharf, dass er bei der Vorstellung des Gutachtens nicht anwesend war und später nur eine kurze Stellungnahme abgab. Eine ausführlichere soll in einer Woche folgen. Theologe Bogner hält nach den Enthüllungen des Gutachtens einen Rücktritt von Marx für angemessen. Es sei vorstellbar, dass der Erzbischof von München und Freising dem Papst als Reaktion auf das Gutachten erneut - wie schon im vergangenen Jahr seinen Rücktritt anbiete, sagte der Professor für Moraltheologie und Ethik an der schweizerischen Universität Freiburg. "Und ich hoffe, er wird eine erneute Ablehnung durch Papst Franziskus diesmal nicht akzeptieren. Dies wäre ein zwar zunächst nur symbolisches, aber sehr starkes Zeichen dafür, dass die bisherigen Strukturen der Kirche so nicht weiter funktionieren."

Das Münchner Gutachten werde die Kirchenaustrittszahlen wohl weiter in die Höhe treiben. Entscheidend sei nun, wie man damit innerkirchlich umgehe: "Bleibt es dabei, einzelne Personen zur Verantwortung zu ziehen, oder werden strukturelle Schlüsse daraus gezogen?"

(Dieser Artikel wurde am Freitag, 21. Januar 2022 erstmals veröffentlicht.)

Quelle: ntv.de, ghö/dpa/AFP

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