Messerattacke in Psychiatrie Experte: 13-Jährige "war kein typischer Fall jugendlicher Radikalisierung"
19.08.2025, 18:11 Uhr Artikel anhören
Warum war die Jugendliche für einen Moment unbewacht in der Küche der Einrichtung? Nach dem Angriff auf eine 24-jährige Betreuerin gibt es Kritik.
(Foto: picture alliance/dpa)
Eine 13-Jährige sticht in einer Paderborner Psychiatrie mit einem Küchenmesser auf ihre Betreuerin ein. Kurz darauf stellt sich heraus: Die Polizei hatte vor einer solchen Tat gewarnt und darauf gepocht, das Mädchen nicht in die Küche zu lassen. Die Teenagerin wird von den Behörden als islamistische Gefährderin eingestuft. Thomas Mücke vom Violence Prevention Network geht trotzdem eher nicht von einem fahrlässigen Handeln der Klinik aus. Vielmehr steckte die Einrichtung in einer Bredouille, sagt er Interview mit ntv.de. Der Islamismus-Experte erklärt zudem, warum die islamistische Ideologie der Jugendlichen bei der brutalen Tat womöglich nur eine untergeordnete Rolle spielte - und warum es für Eltern heutzutage viel schwerer ist, eine Radikalisierung ihrer Kinder zu bemerken als es früher noch der Fall war.
ntv.de: Die 13-Jährige, die in einer Paderborner Psychiatrie auf ihre Betreuerin einstach, steht laut der Polizei unter Terrorverdacht. Die Beamten sollen vor diesem Hintergrund davor gewarnt haben, sie in die Küche der Einrichtung zu lassen. Handelte die Klinik fahrlässig?
Thomas Mücke: Das ist aus der Ferne schwer zu beurteilen. Grundsätzlich steckt eine solche Einrichtung aber immer in einer gewissen Bredouille. Denn während die Polizei, die tatsächlich vor einer solchen Tat warnte, ausschließlich die Aufgabe hat, für Sicherheit zu sorgen, muss die Klinik einen Spagat schaffen: zwischen Sicherheit und ihrer Aufgabe, das Mädchen zu behandeln. Dafür müssen sie einen Zugang zu ihr aufbauen und sie in Aktivitäten hineinbringen. Nur so kann man eine Veränderungsperspektive aufbauen. Natürlich ist genau das bei Menschen, von denen eine Gefahr ausgeht, auch immer ein gewisses Risiko. Wir können dieses Risiko reduzieren und ich gehe auch davon aus, dass die Klinik in Paderborn aus genau diesem Grund über ein Sicherheitskonzept verfügt. Aber Fakt ist eben auch: Ganz ausschließen können wir das Risiko bei unserer Arbeit nicht. Dafür hätte das Mädchen vollkommen isoliert und weggesperrt werden müssen. Das aber hätte ihre Situation nicht verbessert oder verändert. Wir sehen, wie herausfordernd dieser Balanceakt ist.

Der Politologe und Pädagoge Thomas Mücke ist Geschäftsführer von Violence Prevention Network. Die Beratungsstelle widmet sich der Prävention von Extremismus und der Deradikalisierung von Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern.
(Foto: Violence Prevention Network/Fotoploetz)
Der Fall ist besonders brutal: Das Mädchen drohte laut Berichten in der Vergangenheit damit, einen Menschen töten zu wollen und stach schließlich auf ihre Betreuerin, eine nahestehende Person, ein. Sind diese Gewaltfantasien Folge der Radikalisierung?
Das würde ich nicht zwangsläufig sagen. Gerade bei Jüngeren ist die Ideologie der Extremisten selten schon fest verankert. Oft läuft es eher andersherum: Sie suchen sich aus der Ideologie etwas heraus, um ihre Gewaltfantasien zu rechtfertigen. Die wiederum können unterschiedliche Gründe haben. Bei dem Mädchen in Paderborn wissen wir daher nicht, ob die Ideologie bei der Tat eine wirkliche Rolle gespielt hat. Allerdings war sie kein typischer Fall jugendlicher Radikalisierung.
Inwiefern?
Zum einen kommt es sehr selten vor, dass Mädchen oder junge Frauen die Gewalthandlungen oder Terroranschläge direkt durchführen. Sie sind möglicherweise an der Planung beteiligt, aber Handlungen bei der konkreten Ausführung sind sehr untypisch. Zum anderen haben Sie die wiederholten Gewaltandrohungen der 13-Jährigen vor der Tat bereits erwähnt. Wir haben es hier also offensichtlich mit einem Menschen zu tun, der wirklich auf die Gelegenheit gewartet hat, einen anderen Menschen zu verletzen. Wie gesagt, wir kennen das Motiv nicht, aber ich glaube, es ging hier eher darum, mittels Gewaltfantasien eine Art Kontrolle herzustellen. Die Gewalthandlungen könnten der Versuch gewesen sein, die eigene innere psychische Verfassung auszugleichen.
Unabhängig von ihrem Motiv für die Tat führt die Polizei das Mädchen als Terrorverdächtige. Was bewegt eine 13-Jährige dazu, sich der islamistischen Szene anzuschließen?
Möglicherweise aus einem ähnlichen Grund. Zunächst einmal haben wir auch hierzu im konkreten Fall keine Kenntnisse. Aber niemand radikalisiert sich, nur weil er oder sie auf extremistische Inhalte stößt. Vor jeder Radikalisierung gibt es einen emotionalen Schmerz, der aus großen Problemen und sozialen Konflikten resultiert. Die Extremisten - in jeder Art von Extremismus - sprechen genau diese emotionalen Bedürfnisse an. Sie bedienen den Wunsch nach Harmonie, nach einer gewissen Wichtigkeit. Für die Kinder und Jugendlichen entsteht plötzlich ein Gefühl der Aufwertung: Sie werden gesehen, sie sind Teil einer Gruppe.
Das gelingt den Extremisten offensichtlich viel häufiger als vor zehn Jahren. Laut den Behörden nimmt die Radikalisierung von Kindern und Jugendlichen deutlich zu. Woran liegt das?
Kinder und Jugendliche stehen bei den Islamisten - wie auch bei Rechtsextremisten - im Fokus. Zum einen wissen auch sie, dass junge Menschen leichter manipulierbar sind, zum anderen brauchen auch extremistische Akteure Nachwuchs. Schauen wir allein auf die Anschlagsversuche von Oktober 2023 bis Oktober 2024, waren tatsächlich zwei Drittel der Tatverdächtigen im Alter zwischen 13 und 19 Jahren. Die Verjüngung scheint nun also zu gelingen. Das liegt allerdings weniger an einer veränderten Taktik der Extremisten als schlicht daran, dass sie die Kinder und Jugendlichen nun besser erreichen.
Stichwort Soziale Netzwerke?
Genau. Fast alle der eben erwähnten Terrorverdächtigen haben sich im Internet radikalisiert. Es handelt sich jedoch einzig um einen anderen Weg der Ansprache - die Filterblase, in die die Jugendlichen gezogen werden, ist dieselbe wie früher. Früher lief es vor allem so ab: Ein Jugendlicher wird von einem Gleichaltrigen angesprochen und eingeladen. In der Gruppe erfährt er dann eine Gemeinschaft und eben die Anerkennung und Harmonie, nach der er sucht. Anschließend wird der Jugendliche von der Gesellschaft entfremdet, ihm wird etwa eingebläut "Islam und Demokratie, das widerspricht sich". Dann gibt es den Missionierungszwang: Die Jugendlichen versuchen, ihre Familien dazu zu bringen, zum "richtigen Islam" zu konvertieren und stoßen natürlich auf Widerstand. Zum Schluss heißt es aus der Gruppe: Du musst deine sozialen Kontakte überprüfen, darfst nicht mehr mit unreinen, ungläubigen Menschen zusammen sein. Der Jugendliche lebt nun in einer Filterblase. Seine einzige Peergroup sind die Extremisten.
Wie läuft es heute ab?
Ähnlich, nur eben in der digitalen Welt. Aber auch dort wird eine Gruppe voller Wertschätzung geschaffen. Auch dort folgt die Manipulation und Isolierung. Der Vorteil für die Extremisten ist nur, dass sie viel mehr Menschen - vor allem junge Menschen -gleichzeitig erreichen. Denn das Internet ist eben der Ort der jungen Menschen. Die Methode hat sich damit kaum geändert. Allerdings stellen wir einen Unterschied im Umgang mit der Radikalisierung fest.
Inwiefern?
Früher bemerkten die Eltern und das Umfeld die Radikalisierung der Kinder oft, heute nicht mehr. Früher haben sich während der Radikalisierung oft die Alltagsrituale geändert oder die Kleidung. Es gab eher eindeutige Signale. Heute verhalten sich die Menschen, die sich radikalisieren im analogen Leben oft ganz normal, während sie in der digitalen Welt mit extremistischen Narrativen agieren. Eltern kriegen dies dann meistens erst mit, wenn sie Zugang zu den digitalen Kanälen ihrer Kinder haben. Im Alltagsverhalten bemerken sie die Veränderung kaum. Um Warnsignale zu erkennen, müssen wir also viel mehr auf die digitale Nutzung der jungen Menschen achten. Denn auch so viel ist klar: Die jungen Menschen klopfen nicht einfach an die Tür von Beratungsstellen. Das braucht Hilfe von außen.
Sie sagten einmal, es sei viel leichter, Kinder und Jugendliche "zurückzuholen" als Erwachsene. Warum?
Der ideologische Festigungsgrad ist bei weitem noch nicht so ausgeprägt wie bei etwa 40- oder 50-Jährigen. Wenn man es dann schafft, Vertrauen und eine Arbeitsbeziehung aufzubauen, ist es viel leichter, das ideologische Weltbild ins Wanken zu bringen. Genau das sehen wir gerade bei unserer Arbeit mit Syrienrückkehrern: Die wurden oft als Personengruppe beschrieben, die man nur schwer wieder in die Gesellschaft integrieren kann. Allerdings waren das meist junge Menschen, die mit 14, 15 oder 16 Jahren in die Kampfgebiete ausgereist sind. Die sind also auch nach ihrer Rückkehr noch sehr jung. Bei den Menschen, mit denen wir und die bundesweiten Beratungsstellen arbeiten, gab es bisher keinen einzigen Rückfall. Im Gegenteil: Sie sind relativ gut wieder in der Gesellschaft integriert.
Die Radikalisierung von Kindern und Jugendlichen nimmt zu, während es für ihr Umfeld schwieriger ist, diese Veränderung wahrzunehmen. Rechnen Sie vor diesem Hintergrund mit mehr Fällen wie jenem aus Paderborn?
Der Fall aus Paderborn ist sehr speziell, bei dieser Betrachtung bleibe ich. Ich rechne aber mit mehr Radikalisierungsfällen. Grundsätzlich sind wir dafür besser aufgestellt als früher: Wir haben ein sehr gutes Netzwerk an Beratungsarbeit aus Psychologen, Sicherheitsbehörden und Kinder- und Jugendhilfe aufgebaut. Das ist nicht annähernd mit der Situation von vor 13 Jahren vergleichbar. Und dieses Angebot wird auch genutzt: Die Beratungsanfragen haben sich in den vergangenen Jahren verfünffacht. Wir können den steigenden Fällen also etwas entgegenstellen. Allerdings arbeiten wir mit knappen Ressourcen. Wenn sich die Radikalisierungsfälle auf diese Art weiterentwickeln, müssen wir also unbedingt mehr in die Ressourcen investieren.
Mit Thomas Mücke sprach Sarah Platz
Quelle: ntv.de