STIKO-Experte Zepp im Interview Impfempfehlungen sind kein "Wünsch dir was"
01.06.2021, 16:47 Uhr
STIKO-Mitglied Zepp hält eine begrenzte Empfehlung der Kinder-Impfungen für plausibel.
(Foto: picture alliance / dpa)
Die Bundesregierung will in der kommenden Woche auch Kinder ab zwölf Jahre in die Impfkampagne einbeziehen. Die Zulassung eines Vakzins liegt bereits vor, aber noch fehlt die Empfehlung der STIKO. Deren Mitglied Zepp gibt im Interview mit ntv einen Einblick in die Überlegungen der Kommission.
ntv: Es wird wieder viel über Schüler diskutiert. Viele gehen seit gestern in ganzer Klassenstärke in die Schule. Ist das eine richtige Entscheidung?
Fred Zepp: Ja. Wir haben empfohlen, den Schulbetrieb wieder aufzunehmen. Angesichts der deutlich rückläufigen Infektionslage plus der Rahmenbedingungen plus der Erfahrungen, die wir gemacht haben, dass es in Schulen besonders gut funktioniert mit den Hygiene-Regeln, ist das aus unserer Sicht zulässig. Vor allen Dingen ist es wichtig für Kinder und Jugendliche, endlich wieder in einen normalen Schulbetrieb zurückgeführt zu werden.
Seit gestern gibt es auch endgültig grünes Licht für den Biontech-Impfstoff für Kinder ab zwölf. Ist das auch wichtig für Kinder und Jugendliche?
Das ist grundsätzlich was Wichtiges. Allerdings ist es tatsächlich nicht besonders wichtig für die Wiedereröffnung der Schulen oder für die Wiederaufnahme des Präsenzunterrichts.
Wofür ist es denn dann wichtig, dass man einen Impfstoff hat, der für Kinder zugelassen ist?
Ohne große Krankheitslast brauchen Kinder und Jugendliche eigentlich keine Impfung, um sich vor Krankheiten zu schützen. Es gibt aber eine Untergruppe von Kindern, die zum Beispiel chronische Lungenerkrankungen haben wie Mukoviszidose oder Kinder mit schwerwiegendem Herzfehler, Stoffwechselerkrankungen oder Trisomie21. Von diesen Kindern wissen wir, dass sie ein höheres Risiko für einen schwerwiegenden Krankheitsverlauf haben. Das sind die, die wir zunächst im Auge haben und prüfen müssen, ob wir sie zuverlässig durch eine Impfung schützen können.
Ist es richtig, dass etwa Schülervertreterinnen und Schülervertreter sagen, genau für diese Gruppe sollte der Impfstoff dann auch reserviert werden?
Ja absolut. Wir haben im Augenblick noch begrenzte Mengen verfügbarer Impfstoffe und insofern muss man schauen, wo ist der Impfstoff am sinnvollsten eingesetzt. Wenn wir jetzt fünf oder drei Millionen Jugendliche impfen würden, dann würden wir den besonders gefährdeten Menschen eigentlich diesen Impfstoff wegnehmen. Noch immer sind 30 Prozent der hochpriorisierten, risikobelasteten Menschen nicht geimpft, während Kinder im Prinzip nicht erkranken. Und wir wissen auch: Kinder geben den Infektionserreger nicht so intensiv weiter.
Verstehe ich Sie dann richtig, dass Sie die angekündigte Aufhebung der Priorisierung nicht so gut finden?
Wenn man mich gefragt hätte, hätte ich empfohlen, noch ein bisschen zu warten, bis wir die Risikogruppen in unserer Gesellschaft wirklich geschützt haben. Dass das gut funktioniert, sehen wir daran, dass wir jetzt sehr viel weniger ältere Menschen mit schweren Verläufe haben, die auf Intensivstation liegen. Das Konzept, die am höchsten Gefährdeten zunächst zu impfen, funktioniert. Wir hätten uns noch ein, zwei Wochen Zeit geben sollen, um wirklich erfolgreich diese Risikogruppen zu impfen.
Lassen Sie uns nochmal über die Zulassung des Impfstoffes für Kinder durch die EMA und jetzt auch das grüne Licht durch die EU sprechen. Eine Impfempfehlung der STIKO gibt es ja nicht. Was ist der Unterschied zwischen einer Zulassung und einer Impfempfehlung?
Eine Zulassungsbehörde prüft die Unterlagen, die ein Medizinproduktehersteller oder ein Impfstoffhersteller einreicht. Im Augenblick haben wir eine Situation, in der Zulassungsbehörden in Betracht ziehen, höhere Risiken zu akzeptieren, weil die Bedrohung durch die Infektionskrankheit so stark ist. In den USA etwa gibt es dann eine Notfallzulassung. Die signalisiert: nicht komplett geprüft! In Europa sind wir etwas sorgfältiger. Wir haben eine bedingte Zulassung. Dabei vermittelt die Behörde, dass die Daten nicht in dem Umfang vorliegen, wie sie es normalerweise erwarten würde. Trotzdem gibt es seit 1972 in Deutschland die Ständige Impfkommission. Die STIKO hat nur den Auftrag, aus der Menge der verfügbaren Impfstoffe die zu empfehlen, die hierzulande am besten Krankheiten oder Seuchen verhindern. Gleichzeitig aber muss sie auch betrachten: Ist das sicher? Würden wir die Zulassungsrahmenbedingungen 1:1 übernehmen, bräuchten wir keine STIKO. Sie trifft eine Empfehlung im Rahmen der Zulassung und kann nicht über die Zulassung hinausgehen. Aber sie kann sie einschränken.
Ärgert Sie es, wenn Bundesgesundheitsminister Jens Spahn sagt, ich will in den Sommerferien alle Kinder ab zwölf impfen? Fühlen Sie sich dann übergangen oder nicht ernst genommen?
Ich finde es ein bisschen schade. Ich glaube, das ist auch die Wahrnehmung vieler meiner Kolleginnen und Kollegen in diesem Gremium. Wir haben vor 50 Jahren vorausschauend ein solches Expertengremium ins Leben gerufen mit dem Ziel, Politik zu beraten. Tatsächlich entwickeln wir nur Empfehlungen. Doch dahinter steckt eine ausführliche, wissenschaftlich belegte Begründung. Und jetzt muss man mal sagen, Impfempfehlungen sind ja nicht "Wünsch dir was", sondern es geht darum, Gesundheit zu erhalten, Infektionen zu verhindern und den Menschen ein sicheres Konzept an die Hand zu geben. Ich kann aber wiederum nachvollziehen, dass Politiker es gerne mal anders hätten, weil sie ein bestimmtes politisches Ziel als opportun ansehen und erreichen wollen. Aber das darf nicht dazu führen, dass wir Sicherheitskonzepte, Entscheidungsprinzipien einfach achtlos über den Haufen werfen.
Wann kommt denn nun die STIKO-Stellungnahme zu den Impfungen für Kinder und Jugendliche?
Die wird voraussichtlich nächste Woche kommen. Viel schneller geht es nicht, weil Kommunikationsschritte zwischen den Bundesländern dem Robert-Koch-Institut und der STIKO organisatorisch vorgegeben sind.
Man muss kein Prophet sein, um zu erwarten, dass das dann eine Empfehlung für vorerkrankte Kinder sein wird, richtig?
Es ist eine ziemlich plausible Überlegung.
Mit Fred Zepp sprach Doro Steitz
Quelle: ntv.de