Regional große Unterschiede In NRW sinken die Schüler-Inzidenzen rasant
08.09.2021, 19:08 Uhr
Trotz Präsenzunterricht seit dem 18. August sinken die Inzidenzen von NRW-Schülern drastisch.
(Foto: picture alliance / Flashpic)
Seit zwei Wochen geht es trotz Präsenzunterricht mit den Fallzahlen bei Kindern und Jugendlichen in NRW steil bergab. Warum das so ist, ist nicht leicht zu beantworten. Feststeht lediglich, dass mehrere Faktoren eine Rolle spielen und dass es in dem Bundesland regional große Unterschiede gibt.
Lange stiegen im Sommer die Covid-19-Inzidenzen in Nordrhein-Westfalen rasant an, von rund 6 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner und Woche auf knapp 133 am 29. August. Durch die relativ hohen Impfquoten bei den Älteren, trieben vor allem Kinder und Jugendliche die Zahlen in die Höhe. Die Sorge war daher groß, dass die Inzidenzen durch Präsenzunterricht an den Schulen noch schneller nach oben gehen würden. Doch das genaue Gegenteil ist eingetroffen, besonders bei Schülern sind seit zwei Wochen die Fallzahlen im Sinkflug. In anderen Bundesländern ist das nicht so. Die große Frage ist also, warum die Schüler-Inzidenzen in NRW so rasant fallen.
Besonders deutlich ist die Entwicklung bei den 10- bis 14-Jährigen, deren Fallzahlen von rund 435 am 25. August auf gestern 326 gefallen sind. Die Inzidenz der 5- bis 9-Jährigen kletterte noch bis 31. August auf knapp 349 und sackte dann auf aktuell 287 ab. Bei den 15- bis 19-Jährigen wurden am 25. August noch 324 Neuansteckungen pro Woche und 100.000 Einwohner gemeldet, gestern waren es nur noch 222.
Viele Reiserückkehrer
Dass die Inzidenzen der Kinder und Jugendlichen nach Schulbeginn in NRW so dramatisch sinken, könnte unter anderem daran liegen, dass in dem Land sehr viele Menschen mit Migrationshintergrund leben. Der Anteil der ausländischen Bevölkerung beträgt dort dem Statistischen Bundesamt nach 15,4 Prozent. Und aus den RKI-Informationen geht hervor, dass im August 25 Prozent der Infektionen mit wahrscheinlich bekanntem Ansteckungsort auf Auslandsreisen zurückzuführen waren, vor allem auf Familienbesuche.
Das würde zum Teil auch die großen Unterschiede erklären, die es regional in NRW gibt. Coesfeld ist mit einer 7-Tage-Inzidenz von 33 mit Abstand der Landkreis mit den niedrigsten Fallzahlen. Gleichzeitig ist dort der Ausländeranteil mit 6,6 Prozent außergewöhnlich niedrig. Die zweitniedrigste Inzidenz hat in NRW aktuell Münster mit einem Wert von 49. Auch dort ist der Ausländeranteil mit knapp 12 Prozent unterdurchschnittlich.
Hoher Ausländeranteil erklärt nicht alles
Die höchste Inzidenz meldet zurzeit Leverkusen mit knapp 250 Neuinfektionen. Der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund beträgt in der Stadt fast 17 Prozent. Wuppertal liegt mit 215 neuen Fällen pro Woche und 100.000 Einwohner nur knapp hinter Leverkusen und mit rund 40 Prozent hat es einen der größten Ausländeranteile des Landes.
Die Gleichung hoher Migrantenanteil = hohe Inzidenz geht aber nur zum Teil auf. Denn dann müsste Hamm ebenso viele Neuinfektionen zählen wie Wuppertal. Doch seine Inzidenz ist mit rund 139 deutlich niedriger. Außerdem sind in Coesfeld die Fallzahlen von rund 89 auf 34 Neuinfektionen noch dramatischer gesunken als landesweit. Auch in Münster fiel der Wert immerhin von 86 auf 49.
Ärmere stecken sich häufiger an
Ein weiterer Faktor könnte das Durchschnittseinkommen der Bevölkerung sein. Ein Preprint des Rostocker Zentrums zur Erforschung des demografischen Wandels zeigt, dass sich das Infektionsgeschehen von anfangs wohlhabenderen Bevölkerungsschichten in Süddeutschland im Laufe der Pandemie in ärmere städtische und später auch ärmere landwirtschaftlich geprägte Kreise verschoben hat.
Dass eine ähnliche Entwicklung auch regional beziehungsweise innerstädtisch beobachtet werden kann, hat das Fraunhofer-Institut für Intelligente Analyse- und Informationssysteme (IAIS) in Köln festgestellt. Demnach fand das Infektionsgeschehen in der ersten Welle vor allem in den linksrheinischen Stadtteilen mit niedriger Arbeitslosenquote statt, in der zweiten und dritten Welle dagegen in den rechtsrheinischen Vierteln mit höherer Arbeitslosenquote.
Durchschnittseinkommen spielt geringere Rolle
Mit einem geringeren Durchschnittseinkommen sind hohe Inzidenzen aber auch nicht wirklich erklärt. Mit Leverkusen, Wuppertal, Remscheid und Gelsenkirchen weisen vier Städte die höchsten Fallzahlen in NRW auf. Auf den Plätzen danach folgen mit dem Oberbergischen Kreis und Siegen-Wittgenstein zwei Landkreise.
Ein Blick in die Statistik des Landwirtschaftsverbands Westfalen-Lippe zeigt, dass lediglich Gelsenkirchen ein stark unterdurchschnittliches Haushaltseinkommen hat. In Leverkusen und Wuppertal verdient man etwas weniger als der Durchschnitt, Remscheid liegt knapp darüber.
Haushalte im Oberbergischen Kreis haben ein leicht überdurchschnittliches Jahreseinkommen, im Kreis Siegen-Wittgenstein hat man sogar deutlich mehr Geld in der Tasche als der Durchschnitt.
Altersfaktoren entscheidend
Den Erkenntnissen des IAIS nach spielen sozioökonomischen Verhältnissen schon eine Rolle, Altersfaktoren sind für das aktuelle Infektionsgeschehen aber relevanter. Spannend ist dabei, dass die vorläufigen Ergebnisse der Wissenschaftler zum Teil auch erklären können, warum sich die Schulen bisher nicht zu Infektionsherden entwickelt haben.
Demnach gibt es drei Übertragungsmuster:
1. Die meisten Infektionen finden innerhalb der gleichen Altersgeneration statt.
2. Außerhalb der eigenen Generation steckt man sich häufiger bei älteren Personen an. Nur 14 Prozent fangen sich das Virus bei jüngeren Menschen ein. Das trifft sowohl auf Infektionswege von jungen Kindern auf ihre Eltern, als auch von erwachsenen Menschen auf die Großelterngeneration zu.
3. Darüber hinaus zeigt sich, dass 72 Prozent der Indexpersonen, die sich bei einer jüngeren Person angesteckt haben, das Virus nicht weitergeben. Hier werden Infektionsketten also erfolgreich unterbrochen.
Daraus folgt, dass Schulen grundsätzlich keine Infektionsherde sind, sondern das Virus vor allem von außen durch Ältere hineingetragen wird. Um Kinder und Jugendliche zu schützen, ist daher eine hohe Impfquote der Erwachsenen entscheidend.
Bremen könnte NRW folgen
Eine hohe Impfquote ist aber nicht alles, wie man am Beispiel Bremen sehen kann. Mit 71,6 Prozent vollständig Geschützten und 76,2 Prozent mindestens einmal Geimpften in der Bevölkerung ist es unter den Bundesländern hier die klare Nummer 1. Allerdings trifft das auch auf die Gesamtinzidenz zu, wo es mit fast 118 Neuinfektionen ebenfalls an der Spitze steht.
Doch der Schein trügt möglicherweise. Denn Bremen könnte vor einer ähnlichen Entwicklung wie NRW zu stehen, wie man anhand der Inzidenzen nach Altersgruppen sieht. In der Hansestadt gingen die Ferien erst am 1. September zu Ende.
In der vergangenen Woche betrug in Bremen die 7-Tage-Inzidenz der 10- bis 14-Jährigen 252, die der 15- bis 19-Jährigen 187 und die 5- bis 9-Jährigen zählten 165 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner. Aktuell sind die Fallzahlen auf 99, 46 und 62 gefallen, allerdings ist es erst Mittwoch. Aber selbst wenn sich die Inzidenzen bis Ende der Woche noch verdoppeln, wäre ein klarer Abwärtstrend zu erkennen.
Trend kann sich schnell wieder umkehren
Das Rätsel der sinkenden Schüler-Inzidenzen in NRW wäre damit zwar auch nicht gelöst. Aber es würde den Verdacht weiter erhärten, wonach direkt nach Ferienende steigende Fallzahlen möglicherweise daran liegen, dass an den Schulen zweimal pro Woche getestet wird und damit viele Infektionen aus den Ferien entdeckt werden. Nachdem die meisten Ansteckungen so gefunden wurden, fielen dann deutlich weniger Tests positiv aus.
Wie die Erkenntnisse des IAIS zeigen, kann sich der Abwärtstrend bei den Schüler-Inzidenzen aber auch schnell wieder umkehren, wenn sich nicht mehr Erwachsene impfen lassen. Selbst Quoten um die 70 Prozent sind noch deutlich zu niedrig. In Berlin, wo nur 61,5 Prozent der Bevölkerung vollständig geschützt sind, scheint dies jetzt schon zu passieren. Nachdem dort Ende August die Inzidenzen der 5- bis 19-Jährigen zunächst leicht zurückgegangen waren, sind sie zuletzt wieder gestiegen.
Quelle: ntv.de