Gefährliche Welt der "Incels" In der "Mannosphäre" tummelt sich der digitale Frauenhass
22.06.2025, 08:51 Uhr
Besonders im Netz kommen junge Männer mit frauenfeindlichen Narrativen in Kontakt.
(Foto: Finn Winkler/dpa/Symbolbild)
Sie heißen "Incels", "Pick-Up-Artists" oder "Red Piller", bevorzugen traditionelle Geschlechterrollen und bewegen sich in der sogenannten Mannosphäre: Demnach steht ihnen von Natur aus Dominanz zu, weibliche Emanzipation führt angeblich zur gesellschaftlichen Benachteiligung der Männer. Wie gefährlich ist das?
Vermummte und schwer bewaffnete Polizisten treten die Tür zu einem Einfamilienhaus ein. Sie stürmen die Treppe hoch und finden den 13-jährigen Jamie im Bett seines Kinderzimmers. Die Beamten nehmen den Jungen fest. Sie werfen ihm vor, eine Mitschülerin brutal getötet zu haben.
Das ist die fesselnde Eingangsszene der Miniserie "Adolescence", zu sehen seit März beim Streamingdienst "Netflix". In den vergangenen Monaten hatte die Serie insbesondere in Großbritannien eine Debatte über toxische Männlichkeit, vor allem unter Jugendlichen, angestoßen. Im Fokus standen dabei die Radikalisierung von Jungen und jungen Männern aus Frust über ihren Dating-Misserfolg und die Rolle von sozialen Medien dabei. Ende März trifft der britische Premierminister Keir Starmer sogar die Macher der Serie. Sie soll britischen Sekundarschulen künftig als Unterrichtsmaterial zur Verfügung stehen. Die Niederlande und der flämische Teil Belgiens ziehen nach. Vor wenigen Tagen gibt Frankreichs Bildungsministerin Élisabeth Borne bekannt, ebenfalls Teile der Serie in schulische Lehrpläne aufzunehmen.
Auch im deutschsprachigen Netz kursieren misogyne Inhalte, sagt Gülay Çağlar. Die Professorin für Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin hat Mitte Mai mit Kollegen die Pilotstudie "Mapping the GerManosphere" veröffentlicht. In Zusammenarbeit mit dem "Institute for Strategic Dialogue" definiert sie darin "Mannosphäre" als Sammelbegriff für verschiedene frauenfeindliche Strömungen im digitalen Raum. Diese umfasst "ein loses Netzwerk von Männern, die Frauen, aber auch Themen, wie Gleichberechtigung und Emanzipation für gesellschaftliche Missstände und ihr persönliches Unglück verantwortlich machen", erklärt Çağlar im Gespräch mit ntv.de.
"Sie beanspruchen die Kontrolle über Frauen"
Den Forschenden um Çağlar ging es bei der Pilotstudie vor allem darum, zu verstehen, wie die deutschsprachige "Mannosphäre" aufgebaut ist und was sie international unterscheidet. Das Forschungsteam stellte fest: Viele frauenfeindliche Narrative sind nahezu identisch mit denen, die international beobachtet werden.
Da gibt es, wie in "Adolescence" beschrieben, zum einen die "Incels". Der Begriff ist eine Bezeichnung für heterosexuelle Männer, die (englisch: involuntary) keine (sexuellen) Beziehungen zu Frauen haben und damit nach ihrem Verständnis unfreiwillig im Zölibat (celibate) leben. Die Gruppe nennt Çağlar gefährlich. "Das ist eine Mischung aus Selbsthass und Hass auf andere in der Gesellschaft, insbesondere auf Frauen", sagt sie. Sie geben Frauen und der Gleichstellung der Geschlechter die Schuld an ihrer unfreiwilligen Einsamkeit. Problematisch sind aber vor allem die Schlussfolgerungen, die sie daraus ziehen. "Incels empfinden dies als ungerecht und beanspruchen das Recht auf Sexualität und die Kontrolle über Frauen."
Pick-Up-Artists (deutsch: Aufreißkünstler) machen die zweite Strömung innerhalb der "Mannosphäre" aus. "Sie haben sexistische Erklärungsmuster für weibliches Verhalten", sagt Çağlar. Pick-Up-Artists degradieren Frauen zu Objekten, die sie als manipulierbar ansehen. "Auch sie kritisieren, dass Frauen selbst entscheiden können, mit welchen Männern sie zusammen sind und dass sie angeblich immer eine bestimmte Form von Männlichkeit bevorzugen." Dahinter steckten pseudowissenschaftliche Erklärungen. Im Kern gehe es den Akteuren darum, "die Herrschaft der Männer über Frauen wiederherzustellen, indem Frauen über Manipulationstechniken gefügig gemacht werden".
Daneben gibt es die "Red Piller", angelehnt an den Film "Matrix". Dort schluckt die Hauptfigur eine rote Pille, sieht anschließend die Welt mit anderen Augen und erkennt die Wirklichkeit. Übertragen auf die "Red Piller" in der "Mannosphäre" heißt das: Frauen würden in der heutigen Gesellschaft angeblich bevorzugt. "Men going their own way", also Männer, die ihren Weg gehen, machen eine weitere Gruppe der Mannosphäre aus. Sie boykottieren Beziehungen zu Frauen gleich ganz. Und dann gebe es noch Teile von Väterrechtsaktivisten, die glauben, durch Feminismus benachteiligt zu werden, so Çağlar. Wichtig sei hier allerdings, zwischen misogynen Narrativen und Aktivisten zu differenzieren, die für wirkliche Gleichberechtigung eintreten, etwa beim Sorgerecht für Kinder.
Expertin sieht Gefahr für liberale Demokratien
Das ist also die Bestandsaufnahme der deutschen antifeministischen Bubble im Netz. Sie alle setzen Frauen herab, flüchten sich aus Verunsicherung, Unzufriedenheit oder Wut in ihre Ideologien. Çağlar sieht in der Mannosphäre eine Gefahr für die liberale Demokratie. "Denn es handelt sich meistens um Gruppen, die die liberale Gesellschaftsordnung grundsätzlich kritisieren und teilweise auch im rechten Milieu verortet sind", so die Politikwissenschaftlerin. Für Schlagzeilen sorgte etwa der AfD-Politiker Maximilian Krah in einem Video auf TikTok: Jeder dritte junge Mann habe noch nie eine Freundin gehabt. "Lass dir nicht einreden, dass du lieb, soft, schwach und links zu sein hast." Und weiter: "Echte Männer sind rechts. Dann klappt's auch mit der Freundin."
Auch manche rechten Akteure versuchen also, die Verunsicherung von jungen Männern für sich zu nutzen. "Wir müssen als Gesellschaft achtsam sein. Eltern sollten darauf achten, was ihre Kinder machen und in welchen Algorithmen sie beispielsweise drinstecken", so Çağlar. Auch die Betreiber der Plattformen oder Schulen seinen verantwortlich. "Und auch in den Medien sollte weiter darüber aufgeklärt werden", sagt sie. "Ich glaube, in diesem Zusammenspiel können wir ein Bewusstsein schaffen, wie wir diese Jugendlichen und jungen Männer auffangen können."
Könnte das Zeigen von"Adolescence" an deutschen Schulen dabei helfen? Das Bundesministerium für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend sieht zumindest einen "Bedarf an lebensweltbezogenen, männlichkeitsreflektierten Unterstützungsangeboten", wie eine Sprecherin auf Anfrage von ntv.de mitteilt. "Beratung und Sozialarbeit sind vielfach nicht ausreichend vorhanden." Welche Inhalte in die Lehrpläne kommen, entscheiden allerdings die einzelnen Bundesländer. Eine Anfrage an die Kultusministerkonferenz der Länder blieb unbeantwortet.
Quelle: ntv.de