
Die Ermittlungsbehörden gewinnen durch die "Pentiti" wertvolles Insiderwissen.
(Foto: picture alliance / ipa-agency)
Die junge Generation der Mafia will nicht wie die alten Bosse ihr Leben hinter Gittern verbringen. Es mehren sich die Fälle, in denen die Jüngeren auspacken - aus Überzeugung oder auch nur aus Kalkül.
"Ich bin von Geburtsrecht ein Mafioso", sagte Emanuele Mancuso den Staatsanwälten. Der 36-Jährige ist der Sohn eines der wichtigsten 'Ndrangheta-Bosse. "Meine Kindheit war dramatisch, mein Vater wurde ständig verhaftet und unser Haus tausendmal Stück für Stück auseinandergenommen. Ich war dabei, verstand, was da gerade geschah, konnte aber nichts machen. Auch ich war einmal klein."
Diese Kindheit wollte er seiner Tochter ersparen. Deshalb entschloss er sich 2018, kurz vor ihrer Geburt, mit der Justiz zu kooperieren und alles, was er über die kalabrische Mafia wusste, auszusagen. Vor allem über das Netzwerk des Mancuso-Clans und dessen Geschäfte hatte er einiges zu berichten.
Mancuso ist ein reuiger Mafioso, beziehungsweise "Pentiti", wie sie hierzulande genannt werden. Ihre Zahl mehrt sich in letzter Zeit und sie kommen aus den verschiedenen Mafia-Organisationen: der sizilianischen Cosa Nostra, der neapolitanischen Camorra und eben der kalabrischen 'Ndrangheta. Wobei die wachsende Zahl von "Calabresi" in der Gruppe noch etwas erstaunt, denn sie waren jene, die sich bis vor Kurzem noch eisern an das Schweigegelübde, die legendäre Omertà, hielten.
"Die Mafiosi von einst gibt es nicht mehr"
Es sind in erster Linie die Söhne, wenn nicht sogar schon die Enkelsöhne, die sich von den Familienmachenschaften distanzieren, wie Arcangelo Badolati in seinem Buch "Die Verräter-Söhne" (Figli traditori, Vlg . Luigi Pellegrini) erzählt. Aus diesem Buch stammt auch die am Anfang zitierte Aussage von Mancuso. Die Tageszeitung La Stampa gibt dem Phänomen einen positiven und zukunftsorientierten Anstrich und schreibt von einer "Rebellion", die gerade unter dem Nachwuchs der Bosse stattfinde. Antonio Talia, Journalist und Autor mehrerer Bücher zum Thema 'Ndrangheta, ist bei der Bezeichnung dieser Reuigen vorsichtiger. "Ich würde da eher von einem vielversprechenden Werdegang sprechen", sagt er ntv.de.
Zu den letzten "Verrätern", beziehungsweise "Rebellen", zählt auch der 27-jährige Salvatore Privitera aus der sizilianischen Stadt Catania. Er hat sich nach der Verurteilung zu lebenslanger Haft, wegen eines Mords, den er als 24-Jähriger begangen hatte, entschlossen, mit der Staatsanwaltschaft zu kooperieren.
Doch die Jugend hat offensichtlich keine Lust mehr, ihr Leben wie ihre Väter hinter Gittern zu verbringen. La Stampa zitiert das Protokoll einer Vernehmung, in der ein alter Mafia-Boss fast schon resigniert sagt: "Die Mafiosi von einst gibt es nicht mehr." Der Grund hierfür ist vor allem, dass die Jungen, die anders als die Alten schon im Wohlstand aufgewachsen sind, keinen Bock haben, im Gefängnis zu darben. Die Zusammenarbeit mit der Justiz gibt zumindest ein Recht auf Strafmilderung.
Die Bezeichnung "Pentiti", also die Reuigen, hört sich für Talia trotzdem zu katholisch an. "Reue ist ein Begriff, der mit Moral zu tun hat. Dem Staatsanwalt ist es aber einerlei, ob jemand seine Taten bereut oder nicht, er will Informationen, die ihm bei den Ermittlungen im Mafia-Umfeld weiterhelfen." Der Mafioso hat sechs Monate Zeit, alles zu sagen, was er weiß. Sollten seine Aussagen wirklich zu neuen Erkenntnissen führen, kann er mit einer Strafmilderung rechnen. Mindestens ein Viertel der Strafe muss er aber auf jeden Fall absitzen.
Nicht Reue, sondern Rache
Dass es sich nicht immer um die Last des Gewissens handelt, die zur Kooperation mit den Ermittlern führt, hat der aus Kalabrien stammende Antonio Zagari bestätigt. Im Buch von Badolati findet man folgende Aussage von ihm: "Es wäre gelogen zu behaupten, ich hätte Gewissensbisse, wegen der Menschen, die ich ermordet habe. Ich suche weiter danach, kann sie aber in mir nicht finden." Eher war es ein Racheakt gegenüber der Familie, die ihn im Stich gelassen hatte. "Wir dürfen uns an einem Leben im Gefängnis ergötzen, während sie immer reicher und fetter werden", war seine bittere Erkenntnis. Seine Aussagen führten immerhin dazu, dass mehr als 150 Angeklagte vor Gericht landeten.
Mancuso ist hingegen ein Fall von tatsächlichem Sinneswandel. Anders, als es ihm beschieden war, sollte seine Tochter nicht in einem 'Ndrangheta-Umfeld aufwachsen. Als er beschloss, mit der Justiz zu kooperieren, dachte er, Sally, seine Freundin und die Mutter seiner Tochter, würde zu ihm und seinem Entschluss stehen. Das tat sie aber nicht. Trotzdem ist es Mancuso am Ende gelungen, das Sorgerecht für seine Tochter zu bekommen. Mittlerweile lebt er mit ihr unter neuer Identität an einem geheimen Ort.
Der vorläufig letzte Mafia-Aussteiger heißt Vincenzo Pasquino, ist 24 Jahre alt und in der norditalienischen Gemeinde Volpiano geboren und aufgewachsen. Seine familiären Wurzeln stecken aber tief in der kalabrischen Gemeinde Platì, die weit über die regionalen und nationalen Grenzen als Hochburg der 'Ndrangheta bekannt ist. Seine Frau hatte ihn vor seiner Sippschaft gewarnt, ihm gesagt, sie würden ihn nur ausnützen. In einem von den Ermittlern mitgeschnittenen Gespräch gibt er sich sehr loyal dem Clan gegenüber: "Verlang von mir nicht, dass ich zwischen dir und ihnen wähle. Ich werfe dich sonst raus. Sie haben mich großgezogen. Als ich keine fünf Euro für die Zigaretten hatte, waren sie an meiner Seite." Warum er sich dann doch zur Zusammenarbeit mit den Ermittlern entschloss, ist nicht bekannt.
Die Familie, das umfasst sowohl die Blutsverwandten als auch den Clan. Sie zu verraten, kommt einem Todesurteil gleich. Darüber war sich auch Pino Scriva, der erste Pentito der 'Ndrangheta, sehr wohl bewusst. Dem Staatsanwalt stellte er sich 1983 mit folgenden Worten vor: "Ich komme aus dem Reich der Toten." Scriva hatte Glück und ist 2021 eines natürlichen Todes gestorben.
Seit Jahren wächst die Zahl der "Plentiti". Das liegt Talia zufolge auch daran, dass die Mentalität der Söhne eine andere als die der Väter sei, auch weil die "Arbeit" eine andere ist. "Zwar bleibt der Drogenhandel weiter ein Kerngeschäft, gerade die Jüngeren sind aber vor allem mit der Geldwäsche beschäftigt. Und das bedeutet, sich in Umgebungen einzuschleusen, die mehr oder weniger sauber sind." Und so sehen sie, was ein normales Leben ist, wie es ist, frei von ständiger Fluchtbereitschaft und Gefängnisgefahr zu leben. Sie werden sich bewusst, dass ihr Geburtsrecht sie zum Mafioso macht, es aber auch Alternativen gibt.
Quelle: ntv.de