Große Gefühle für die Kleinen Aus Nora Imlaus Kinderbüchern lernen auch Erwachsene


Imlau will mit ihren Büchern sowohl Eltern als auch Kinder ansprechen.
(Foto: dpa)
Eigentlich schreibt Nora Imlau ihre Bilderbücher für kleine Kinder. Doch immer häufiger bekommt sie Post von Erwachsenen, deren inneres Kind mit ihren Geschichten zur Ruhe kommt. Kein Wunder, dass ihre Bücher oft schon am Erscheinungstag zu Bestsellern werden.
"Beim Weinen ist es wie beim Lachen: Ich muss dagegen gar nichts machen. Denn ganz egal, ob sie es sollen: Die Tränen rollen, wie sie wollen. Wenn meine Welt zusammenbricht, brauch ich nur jemand, der mich hält", schreibt Autorin Nora Imlau in ihrem Kinderbuch "Was weinst du denn so viel, kleines Krokodil?". Mit ihren Büchern, in denen sie den Kleinen ihre großen Gefühle erklärt, erreicht die Literaturwissenschaftlerin Millionen. Ihre Kinderbücher sind meist schon am Erscheinungstag Bestseller, denn sie treffen wohl einen Nerv.
"Meine Arbeit ist nie beschämend, sondern geht davon aus, dass Eltern und Familien ihr Bestes geben, dass Kinder getrieben sind von ihren Emotionen und Bedürfnissen und Erwachsene letztlich auch", sagt Imlau im Gespräch mit ntv.de. "Und, dass wir mehr Sanftheit und Großzügigkeit mit uns selbst brauchen."
Mit dieser Strategie entstehen Geschichten rund um kleine Tier-Charaktere, die mit ihren Gefühlen durch den Alltag navigieren und gemeinsam mit ihren Eltern versuchen, ihre Emotionen zu verstehen, denn das sei der Schlüssel.
Beziehungsorientiert statt von oben herab
Imlau verfolgt einen konsequent beziehungsorientierten Ansatz. Das heißt: Kinder müssen nicht gehorchen, sondern sollen mit Vertrauen und Liebe gestärkt werden. Eltern wollen die Bedürfnisse ihrer Kinder verstehen und darauf eingehen. Ein Patentrezept sei Erziehung allerdings nicht. "Wir müssen uns davon lösen, dass Erziehung wie ein Kochrezept funktioniert: Wir geben das rein und dann kommt das raus", sagt die Autorin.
Vor rund 30 Jahren wurden die ersten Stimmen dieser bedürfnisorientierten Erziehung laut. Weg von "Jungs weinen nicht" und der Angst, Kinder zu sehr zu verwöhnen, hin zu dem Gedanken, Kinder mit ihren Gefühlen ernst zu nehmen. "Da ist in den vergangenen Jahrzehnten eine regelrechte Revolution in der Erziehung passiert", erinnert sich Imlau. Sie selbst hat diesen Weg maßgeblich geprägt. "Ich habe als ganz junge Journalistin und Mutter als eine der ersten im deutschsprachigen Raum angefangen, öffentlich und laut darüber nachzudenken, wie Erziehung anders gehen könnte", erinnert sich Imlau. Ein wichtiger Teil ist die Emotionsregulation. Beispielsweise beim Thema Wut.
"Die allermeisten Bücher fokussieren sich auf die Frage: Wie geht die Wut weg?", sagt Imlau über ihre Motivation. "Dabei müssen Eltern und Kinder doch erstmal lernen, dass Wut ein total wichtiges und hilfreiches Gefühl ist und wie man damit umgeht." Denn Wut weise darauf hin, dass etwas nicht stimmt.
Warum Gefühle für Kinder so wichtig sind
Dass Kinder lernen, mit ihren Gefühlen umzugehen, sei wichtig für den Rest ihres Lebens, sagt auch Nicholas Hines. Der US-Amerikaner ist Therapeut für Kinder und Jugendliche. "Nehmen wir an, ein Kind ist verärgert, kann aber nicht deuten, ob es traurig, wütend, trauernd oder ängstlich ist. Dann weiß es auch nicht, was es tun kann, um das schlechte Gefühl zu lösen", erklärt Hines im Gespräch mit ntv.de. Daher müssen Kinder früh lernen, ihre Gefühle zu deuten, und lernen, mit ihnen umzugehen. Lernen sie das nicht, hat das bereits in jungen Jahren Auswirkungen. "Sie haben möglicherweise Schwierigkeiten, Beziehungen aufzubauen, streiten viel oder isolieren sich stark von anderen", erklärt der Therapeut. Das setze sich dann bis ins Erwachsenenalter fort.
Die ersten Effekte der gefühlsbetonten Erziehung sind bereits gesellschaftlich spürbar. "Es gibt heute schon Zwanzigjährige, die mit solchen Ideen groß geworden sind, die ihre Gefühle verstehen, sehr emotional intelligent sind und die sehr gut auf ihre Bedürfnisse und Grenzen achten können, weil sie kommunizieren können, was sie brauchen", sagt Imlau. Für die Einzelnen ist das eine positive Entwicklung, gesellschaftlich wird sie dennoch oft kritisch betrachtet. Denn diese jungen Menschen werden häufig als weniger belastbar gescholten, weil sie schlechte Arbeitsbedingungen nicht akzeptieren wollen. "Man könnte aber auch sagen, dass sie auf sich achten und Grenzen ziehen, bevor sie mit einem Burn-out in der Klinik landen", sagt Imlau.
Im Unterschied zu älteren Generationen werde das besonders deutlich, denn die hätten häufig Schwierigkeiten, ihre Bedürfnisse klar zu benennen. "Wie viele Großeltern machen eher manipulativ Schuldgefühle, anstatt einfach zu sagen, wir würden uns wünschen, du kommst mit dem Kind mal vorbei", sagt die Autorin über den Generationenkonflikt, der in vielen Familien immer wieder aufflammt.
Was können Erwachsene lernen?
Trotz komplexer Reimschemata richtet Imlau ihre Bilderbücher an Kinder. "Ich finde, man muss aufpassen, dass man nicht eigentlich für die Eltern schreibt. Das passiert manchmal und das merken Kinder und dann mögen sie die Bücher auch nicht", sagt sie. Ihr gelingt der Spagat, Identifikationsfiguren für die kleinen Leser zu schreiben, mit Versen, die sich wirklich reimen, und gleichzeitig die Eltern anzusprechen und in ihrem Familienalltag zu begleiten.
Und Erwachsene lernen, genau wie Kinder, einen besseren Umgang mit ihren Gefühlen. "Es gibt tatsächlich eine gar nicht so kleine Gruppe an Menschen, die sagen, uns hilft das, unsere eigene Kindheit zu verstehen", sagt Imlau über ihre Leserpost. "Ich habe auch von ganz vielen Therapeuten und Therapeutinnen Nachrichten bekommen, die mir gesagt haben, dass sie meine Kinderbücher in der Therapie einsetzen." Gerade für junge Männer, die für ihre Emotionen als kleine Jungen von ihren Eltern beschämt wurden und jetzt lernen, dass es in Ordnung ist, zu weinen, erzählt Imlau.
Im Alltag hetzen Erwachsene oftmals gestresst durch den Tag und agieren möglichst lösungsorientiert. "Wir versuchen einfach, den Tag zu überstehen", fasst Hines zusammen. "Dabei können wir von Kindern lernen, uns die Zeit zu nehmen, zu sagen, wie wir uns wirklich fühlen." Denn Kinder geben sich einer Emotion vollkommen hin. Sie lachen, wenn ihnen das Herz aufgeht, und weinen, wenn die Wut im Bauch ist - und brauchen dann nur jemanden, der sie hält.
Quelle: ntv.de