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"Mörder der Erinnerungen" Pelicot-Tochter will schreckliches väterliches Erbe überwinden

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Caroline Darian, Tochter von Dominique und Gisèle Pelicot, im Gericht in Avignon am Tag der Urteilsverkündung im Dezember 2024.

Caroline Darian, Tochter von Dominique und Gisèle Pelicot, im Gericht in Avignon am Tag der Urteilsverkündung im Dezember 2024.

(Foto: picture alliance / Hans Lucas | Anna Margueritat)

Caroline Darian ist die Tochter von Dominique und Gisèle Pelicot. Ihr Vater hatte ihre Mutter jahrelang betäubt und von Fremden vergewaltigen lassen. Für Darian bedeutet diese Entdeckung den Zusammenbruch ihrer Familie, grausame Erinnerungen und einen schweren Kampf zurück ins Leben.

Am 2. November 2020 bricht das Leben der damals 42-jährigen Französin Caroline Darian schlagartig zusammen. Nachdem ihr Vater Dominique Pelicot beim Upskirting erwischt und von den betroffenen Frauen angezeigt wird, entdecken Polizeibeamte mehr als 20.000 Dateien auf dessen Computer. Videos und Bilder zeigen, wie Dominique Pelicot über Jahre seine Frau Gisèle betäubt hat, um sie von fremden Männern vergewaltigen zu lassen. Nach dieser ungeheuerlichen Offenbarung liegt das Leben der ganzen Familie in Scherben.

Über das Jahr, nach dem die unerträglichen Verbrechen ihres Vaters ans Licht gekommen waren, hat seine Tochter unter dem Pseudonym Caroline Darian ein Buch geschrieben: "Und ich werde dich nie wieder Papa nennen" erscheint am 16. Januar im Kiwi Verlag. Sie verwendet das Pseudonym Darian, um die Unterstützung ihrer Brüder zu würdigen. Es ist eine Kombination aus ihren Namen. In ihrem Buch beschreibt Darian, wie ihre Mutter, ihr Ehemann, ihre Brüder, ihr Sohn und auch sie selbst auf die Verbrechen ihres Vaters reagieren: mit Ohnmacht, Schmerz, Trauer, Angst.

"Unsere Familiengeschichte ist eine wahre Katastrophe", schreibt Darian. "In einer Sekunde ist mein Leben auf schwindelerregende Weise ins Wanken geraten." Ihr Buch ist eine Art Tagebuch, in dem sie ein Jahr lang Tag für Tag aufschreibt, was in ihr vorgeht. Oft blickt sie zweifelnd zurück: "Ich will es nicht schönreden, dass ich nichts bemerkt habe. Aber dass mein Urteilsvermögen versagt hat, dafür fühle ich mich schuldig."

Beim "familiären Schiffbruch" nicht untergehen

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Bei ihrer Vernehmung zeigt ihr ein Polizist Fotografien einer schlafenden, beinahe nackten Frau. Erst erkennt sich Darian nicht. Doch als der Beamte sie auf ein Muttermal an der rechten Wange hinweist, "macht es klick. Ein Prickeln läuft durch meinen Körper, ich sehe Sternchen, Flecken hindern mich, klar zu sehen, es brummt in meinen Ohren. Ich falle nach hinten", Darian begreift, dass auch sie ein Opfer der ungeheuerlichen Machenschaften ihres Vaters ist.

Sie kann nicht schlafen, hat Angst, allein zu sein. Sie bricht zusammen und muss in die psychiatrische Notaufnahme. Doch Beruhigungstabletten will Darian nicht nehmen. Das Gefügigmachen durch Tabletten sei unmittelbar mit ihrem Trauma verknüpft, schreibt sie.

"Unser familiärer Schiffbruch ist vergleichbar mit einem Labyrinth, in dem fast zwei Jahre lang jeder Schritt vorwärts eine neue Tür zu anderen düsteren Enthüllungen öffnete", formuliert sie, nachdem noch mehr Fotos von ihr auftauchen. "Keine Frau in unserer Familie blieb von meinem Vater verschont." Auch ihre Schwägerinnen wurden von ihrem Vater heimlich fotografiert. "Diese Ereignisse, die unser familiäres Scheitern besiegeln, schnüren mir die Kehle zu." Sie ist sich inzwischen sicher: Auch sie wurde von ihrem Vater betäubt. "Ich will den Schleier, der über den jahrelangen Manipulationen liegt, lüften."

Oft blickt sie zurück und erkennt Ungereimtheiten: 2019 hatte Darian eine Verletzung im Intimbereich - doch ihre behandelten Ärzte können nicht erklären, was eigentlich die Ursache war. Im Verhör konfrontiert mit den voyeuristischen Bildern der schlafenden Tochter beteuert der Vater, sich weder zu seiner Tochter noch zu seinen Schwiegertöchtern sexuell hingezogen zu fühlen - die Bilder sprechen eine andere Sprache. "Die Wahrheit über das, was mich betrifft, werde ich wohl nie erfahren."

"Aufrecht in den Ruinen stehend"

"Meine Mutter wird auf ihren Ehemann verzichten müssen, wir drei auf unseren Vater", schreibt Darian. "Unser Vater lebt zwar noch, aber wir stehen alle vor einer Leere." Mutter, Tochter, Schwiegertöchter, Söhne und Enkel, sie alle sind Opfer. Sie alle leiden. "Das Kind des Opfers und des Täters zu sein, ist eine schreckliche Last."

Mutter Gisèle zieht erst einmal bei ihrer Tochter in Paris ein - doch nach dem Zusammenbruch der Tochter entscheidet sich die Mutter, zu einem ihrer Söhne zu ziehen. Eine Psychologin, die die Familie unterstützt, glaubt, dass es besser ist, wenn beide zu diesem Zeitpunkt nicht zusammenleben. Diese Entscheidung verletzt Darian: "Ich fühle mich alleingelassen."

An Heiligabend 2020 schreibt sie: "Mein Vater hat es geschafft, uns zu entzweien. Er hat mir das Wertvollste zerstört: uns. Das Gleichgewicht der Familienbande, meine Wurzeln." Immer wieder stoßen Mutter und Tochter an ihre Grenzen, denn sie "gehen grundverschieden mit dieser unvorstellbaren Geschichte um." Darian beschreibt sich als ein offenes Buch, Verzweiflung, Schmerz, Angst und vor allem Wut könne sie nicht "hinterm Berg" halten. Ihre Mutter Gisèle "dagegen ist wie eine mittelalterliche Königin. Kopf gerade, erhobenes Kinn und keine Klage. Die wahre Heldin, aufrecht in den Ruinen stehend - das ist sie. In den letzten beiden Jahren hat Mama sich als die große Figur in unserer Kernfamilie erwiesen. Dabei war sie das eigentliche Opfer." Mutter und Tochter versuchen zwar auf unterschiedliche Weise, die erlittenen Abscheulichkeiten zu verkraften, trotzdem halten sie zusammen. "Mitten im Gemetzel liegt die Hand meiner Mutter immer in der meinen."

"Mörder der Erinnerungen"

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Das Buch ist einerseits "eine Liebeserklärung der Tochter an die Mutter, die es geschafft hat, ihren Stolz und ihre Lebenskraft in den widrigsten Momenten zu bewahren", so der Kiwi Verlag. Doch ebenso ist das Buch eine Abrechnung mit ihrem Vater. "Ich habe ihn so sehr geliebt damals, bevor ich erfuhr, was für ungeheuerliche Dinge er getan hat", schreibt die Tochter. "Ich werde ihm nie verzeihen, was er in all den Jahren getan hat."

Sie erinnert sich an Urlaube, Familienfeste und Alltagssituationen mit ihrem Vater und deutet diese neu: "Er ist der Totengräber der Familien, der Mörder der Erinnerungen." Oft wendet sich Darian direkt an ihren Vater: "Ich lasse nicht zu, dass du deine Perversion an die nächste Generation weitergibst. Ich werde verhindern, dass du meinem Sohn Schaden zufügst. Ich werde ihn vor dir beschützen."

Schreiben, um sich zu befreien

Schreiben ist für Darian ein Weg, sich mit ihrem Trauma auseinanderzusetzen. "Ich schreibe all meine Gefühle in ein Notizheft. Das hilft mir, auf Distanz zu gehen. Schreiben ist mein Anker, meine Therapie, mit der ich dieses Trauma überwinden kann", so Darian. "Mein Schreiben (…) ist ein Weg, (…) mich von meinem Vater zu lösen, meine Schultern von der Last seines Erbes zu befreien." 2022 erscheint das Buch in Frankreich unter dem Originaltitel: "Et j'ai cessé de t'appeler Papa".

Wenige Monate später initiiert Darian eine Sensibilisierungs- und Präventionskampagne mit dem Hashtag #MendorsPas (#Betäubemichnicht). Die Kampagne soll über die Folgen sogenannter "chemischer Unterwerfung" aufklären und den Opfern eine Stimme geben. "Chemische Unterwerfung" beschreibt die vorsätzliche und meist heimliche Verabreichung von psychotropen Substanzen in Form von Tropfen, Pulver oder Tabletten. Sie erfolgt unter Drohung oder ohne Wissen des Opfers, um es wehrlos und handlungsunfähig zu machen und so Straftaten unterschiedlichster Art zu begehen (sexuelle Übergriffe, Entführung, Diebstahl und andere Verbrechen)", erklären die Übersetzerinnen Michaela Meßner und Grit Weirauch in einer Anmerkung. In der deutschen Rechtsmedizin fällt die "chemische Unterwerfung" unter den Komplex der Verabreichung von K.-o.-Tropfen.

2023 gründet Darian den Verein #MendorsPas: Stop à la soumission chimique. "Es geht darum, ein persönliches Trauma in einen kollektiven Kampf zu verwandeln", schreibt sie. "Ich will dieses schreckliche väterliche Erbe überwinden, diesen Schlamm in etwas Edles verwandeln."

Darin ist sich die Tochter wieder mit der Mutter einig. "Sie sagt, man könne nicht den Opfern helfen wollen und sich gleichzeitig selbst dafür schämen, eines zu sein", schreibt Darian. "Trotz der Enttäuschung, trotz des Leides und des Hasses müssen wir nach vorn schauen, erhobenen Hauptes. Ich klammere mich an die Vorstellung, dass durch diesen Bericht die Scham die Seite wechseln wird."

Hilfe bei häuslicher Gewalt

Häusliche Gewalt führt zu schweren seelischen wie körperlichen Schäden. Hier gibt es telefonische Beratung oder Hilfe per Chat:
Opfertelefon Weisser Ring: 116006, kostenlos, Mo bis So von 7 bis 22 Uhr www.weisser-ring.de
Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen: 0800 116016, kostenlos, Mo bis So, 24 Stunden www.hilfetelefon.de
Hilfetelefon Gewalt an Männern: 0800 1239900, kostenlos, Mo-Do 8 bis 20 und Fr 8 bis 15 Uhr www.maennerhilfetelefon.de

Quelle: ntv.de

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