Suche nach Erklärungen Das Unbehagen, das nach den Avignon-Urteilen bleibt


Gisèle Pelicot bestand darauf, dass der Fall öffentlich verhandelt wird.
(Foto: dpa)
Jahrelang wird Gisèle Pelicot von ihrem Ehemann betäubt und von ihm und anderen Männern vergewaltigt. 200 Fälle können die Ermittler nachweisen, 50 Täter ausfindig machen. Alle Männer werden verurteilt. Erklären lässt sich das, was dort in der französischen Provinz geschehen ist, kaum.
Die Urteile im Vergewaltigungsprozess von Avignon sind gefallen, 20 Jahre muss der Haupttäter Dominique Pelicot in Haft. Alle 50 Mitangeklagten wurden ebenfalls schuldig gesprochen. Ihre Strafen liegen zwischen drei und 15 Jahren. Sie sind noch nicht rechtskräftig.
Das Gericht hat im Fall von Gisèle Pelicot niemanden mit Ausreden davonkommen lassen. Nicht den Feuerwehrmann, der sich als gläubiger Christ präsentierte und Gisèle Pelicot nur berührt, aber nicht vergewaltigt haben will. Nicht den Metzger, der seine Vergewaltigung damit begründete, er sei "sexuell frustriert" gewesen, weil seine Lebensgefährtin mit den Kindern im Urlaub war. Und auch nicht den Ehemann Dominique Pelicot, der seine Ehefrau und die Mutter seiner Kinder über eine Zeitspanne von fast zehn Jahren wiederholt betäubte und von mehr als 80 Männern vergewaltigen ließ.
Von diesen Taten sind Details bekannt geworden, die so ungeheuerlich sind, dass einem schier die Worte fehlen, ob so viel menschlicher Verrohtheit und Grausamkeit. Sie sind unvorstellbar. Und doch sind sie öffentlich vor Gericht verhandelt worden. Dass das so ist, ist allein Gisèle Pelicot zu verdanken, der Frau, für die der allgemeine Sprachgebrauch die Bezeichnung Opfer oder Geschädigte vorsieht. In all den Jahren, in denen Dominique Pelicot seine Frau für Vergewaltigungen anbot, kam keiner der Männer, die davon erfuhren, auf die Idee, ihr Hilfe anzubieten oder die Polizei zu informieren.
Ikone wider Willen
Viel ist über die 72-Jährige geschrieben worden, über ihren Mut, das Verfahren öffentlich verhandeln zu lassen, damit die Scham die Seite wechseln kann. Damit nicht mehr Frauen sich schämen, wenn sie Opfer von sexuellen Übergriffen werden, sondern die Männer sich schämen, dafür, dass sie so etwas tun.
Das mag ihr gelungen sein, doch wenn Gisèle Pelicot die Wahl gehabt hätte, würde sie vermutlich bis heute lieber mit einem Ehemann einen entspannten Lebensabend verbringen, in dem Kinder und Enkel zu Besuch kommen und man sich freut, wenn das Wetter schön ist. Doch Gisèle Pelicot hatte diese Wahl nicht, weil der Mann, mit dem sie 50 Jahre lang verheiratet war, es für legitim hielt, sie für seine sexuellen Fantasien zu benutzen. Und weil 80 weitere Männer über zehn Jahre lang nicht zögerten, eine Frau zu vergewaltigen, die ganz offensichtlich selbst dazu keinerlei Einverständnis signalisierte. Insgesamt konnten die Ermittler etwa 200 Vergewaltigungen der bewusstlos gemachten Frau nachweisen.
Gisèle Pelicots Aufstieg zu einer feministischen Ikone ist mit Jahren des Leids bezahlt. Und mit dem Verlust von Vertrauen in den Menschen, den sie für ihren liebevollen Partner hielt und dem sie bereit war beizustehen, als er festgenommen wurde, weil er Frauen unter den Rock fotografiert hatte. Der auch nicht nur sie, sondern auch seine Tochter und seine Schwiegertöchter heimlich fotografiert und gefilmt hat.
Zufall oder Ausnahme?
Was nach diesem Verfahren bleibt, sind Verwirrung und Ratlosigkeit. Natürlich ist ein Fall dieser Dimension eine Ausnahme. Und doch. Dass Frauen zuallermeist Opfer ihrer Partner werden, ist inzwischen gut erforscht und belegt, bei sexuellen Übergriffen, aber auch bei Gewalttaten. Viele der Partnerinnen von Dominique Pelicots Mitangeklagten sprachen im Prozess über die Verunsicherung, nicht mehr zu wissen, was sie in ihren eigenen Partnerschaften glauben können. Zumindest in einem Fall ließ sich ein Mann von Dominique Pelicot inspirieren und betäubte und vergewaltigte anschließend seine eigene Ehefrau.
Nur zu gern möchte man glauben, dass sich in diesem Fall Männer zusammentaten, die zufällig sexuelle Fantasien teilten, die Frauen abwerteten und auch ihr Einverständnis außen vorließen, um es mal vorsichtig auszudrücken. Andererseits fanden sich in einem relativ kleinen Umkreis von etwa 65 Kilometern in der französischen Provinz Dutzende Männer, die genau dazu anreisten. Die der perverse Komplize sein wollten, um "meine eingeschläferte Frau zu missbrauchen" oder wie Dominique Pelicot den "Vergewaltigungsmodus" mochten.
80 Männer, von denen lediglich 50 ausfindig gemacht werden konnten. Männer im Alter zwischen 26 und 74 Jahren aus allen möglichen Berufen. Unter den Angeklagten waren ein Krankenpfleger, ein Soldat, ein Journalist, ein Gefängnisdirektor und ein Lieferfahrer. Manche waren verheiratet, andere Singles, manche hatten Probleme in der Schule, andere zwei Hochschulabschlüsse. Einige hatten selbst Missbrauch erlebt, andere berichteten im Prozess von glücklichen Bilderbuchkindheiten.
Keine Antworten
Was also lässt sich daraus schließen? Bundesfrauenministerin Lisa Paus will zumindest nicht von einem Einzelfall ausgehen. "Selbst über Landesgrenzen hinweg bilden sich Netzwerke, in denen Männer Gewalt gegen Frauen planen und umsetzen", sagte sie nach dem Urteil. Fest steht, dass frauenfeindliche und -abwertende Überzeugungen nicht nur weit verbreitet sind, sondern auch gesellschaftlich meist toleriert werden. Frauen werden dann oft dafür gehasst, dass sie sich anderen Partnern zuwenden, sich für ihren Beruf engagieren oder einfach nur sind.
Gisèle Pelicot selbst erhoffte sich Erklärungen von diesem Prozess, von ihrem früheren Ehemann, von den anderen Männern, die sie vergewaltigten. Sie bekam sie nicht, stattdessen stritten die Angeklagten die Taten ab, oder die Absicht, jemanden zu vergewaltigen. Manche sahen sich selbst als Opfer des Ehemannes, der sie dazu gebracht habe, Gisèle Pelicot oral, anal oder vaginal zu vergewaltigen. Als die Urteile verkündet waren, äußerte Gisèle Pelicot die Hoffnung, dass die Gesellschaft die Debatten, die während des Prozesses geführt wurden, aufgreifen kann.
Und so bleibt vor allem das Gefühl, dass Männlichkeit viel zu oft toxische Männlichkeit ist, die Teile der Gesellschaft durchzieht und Männer glauben lässt, dass Frauen Gewalt, Erniedrigung und Missbrauch verdienen. So lange sich daran nichts ändert, ist der nächste Fall Pelicot nur einen Ermittlungszufall entfernt.
Quelle: ntv.de