
Erscheint immer stärker: Gisèle Pelicot.
(Foto: AP)
Jahrelang wurde Gisèle Pelicot sediert und von Dutzenden Männern missbraucht. Im Prozess gegen diese zeigt sie sich unfassbar stark. Und sie beweist, dass Scham nie etwas bei den Opfern zu suchen hat. Sondern bei den Tätern. Nun wird das Urteil gegen ihre Peiniger erwartet.
Sie hat es geschafft. Sie hat es geschafft, dass die Scham die Seite wechselt. Nicht das Opfer muss sich schämen, sondern der Täter. Sie hat es auch geschafft, diese Prozedur des "Nocheinmalerlebens" all der schrecklichen Dinge, die ihr angetan wurden, zu überstehen. Sie ist eine Heldin. Erstaunlich, dass ihre Verteidiger Männer sein durften, wo doch Männer versucht haben, ihr das Wichtigste zu nehmen, was ein Mensch hat: die Würde. Gisèle Pelicot aber hat differenziert und nicht alle Männer generell zu Tätern gemacht, nein, sie hat es geschafft, ihre Würde zu behalten und die Menschen zu sehen. Sie war stark, wo andere schwach gewesen wären, sie hat sich gezeigt, wo andere sich versteckt hätten.
Sie hat ein Exempel statuiert. Denn bei dem Namen Pelicot wird man sich nicht an ihren Mann und seine perversen Freunde erinnern, sondern an sie, die Frau, die das alles überlebt und mit ihrer Stärke dazu beigetragen hat, dass andere Frauen in Zukunft Mut finden. Hoffentlich!
Gisèle Pelicot
Je länger der Prozess dauerte, desto mehr Kraft schien sie auszustrahlen. Selbst die Sonnenbrille, hinter der sie sich anfangs versteckte, ließ sie irgendwann weg. Das lag sicher an den vielen Unterstützern und Unterstützerinnen auf der ganzen Welt und vor dem Gerichtsgebäude. Aber zu einem großen Teil lag und liegt es natürlich hauptsächlich an ihr, Gisèle Pelicot, selbst.
Besonders schlimm gewesen sein muss für die 73-Jährige, - wenn man das als Normalsterbliche versucht nachzuvollziehen - sich die Videos mit den Dingen, die ihr angetan wurden, zum ersten Mal anzusehen. Zuallererst sah sie sich die Videos ihrer Vergewaltigungen mit ihren Anwälten an, dann entschied sie, dass das, was mit ihr geschehen war, alle sehen sollten. Das, was die Männer, die sie benutzten, genau mit ihr getan hatten, konnte sie nicht wissen, da sie bei jedem einzelnen der rund 200 Vergehen, die sich über zehn Jahre hinzogen, betäubt war. Das Einzige, was sie wusste, war, dass es ihr oft sehr schlecht ging und sie nicht wusste, warum.
Ihre Welt sei ein Trümmerfeld, ihr Leben ruiniert, sagte sie anfangs. Sie fragte sich, ob ihr Mann sie jemals geliebt haben kann. Im Laufe des über dreimonatigen Prozesses ging sie aber in den Angriffsmodus über. Überwiegend versuchte sie, sich vor Gericht neutral zu geben. Selbst dann, wenn detailliert darüber gesprochen wurde, was genau ihr alles angetan wurde.
Die Vergehen
Nicht alles, was Dominique Pelicot seiner Frau angetan hat - und von anderen antun ließ - hat den Gerichtssaal verlassen. Man weiß, dass er kein Erbarmen hatte, dass er seine Frau sedierte, wo es ihm gerade in den Sinn kam: Auf dem Rückweg aus dem Familienurlaub an der Raststätte, an ihrem Geburtstag, zu Silvester, im eigenen Schlafzimmer, dass er den Mittätern Anweisungen gab, was sie tun sollten. Der Sex fand nicht einvernehmlich anal, oral und vaginal statt. Gefunden wurden die Komplizen per Onlineforum (es heißt "Gegen ihren Willen") und man muss sich schon fragen, wer ein solches Onlineforum ansteuert.
Die Antwort: Männer, die jetzt um Vergebung und Milde winseln, da sie bald heiraten wollen oder sich um Kinder zu kümmern hätten. Welche Frau heiratet einen solchen Mann? Welche Frau lässt ihre Kinder mit einem solchen Mann allein? Da ist noch sehr viel aufzuarbeiten. Die, die sich herausreden, sagen meist, sie dachten, Teil eines Spiels zu sein: Die Frau stelle sich nur schlafend, hätten sie geglaubt.
Dominique Pelicot
Während seine Frau während des Prozesses immer stärker zu werden schien, sackte der Hauptangeklagte nach Aussagen von Prozessbeobachtern immer weiter in sich zusammen. Ja, er ist sehr krank, fast könnte man ihn bedauern, so armselig soll er gewirkt haben vor Gericht. Aber was ist mit der Krankheit, die ihn dazu getrieben hat, seine Frau zu sedieren, selbst zu missbrauchen und anderen Männern im Internet zur Vergewaltigung, zum Missbrauch, anzubieten, wie ein Stück Fleisch oder einen Gebrauchtwagen, der nicht mehr benötigt wird?
Was hat ihn dazu getrieben? Was passiert da in einem Menschen, in einem Mann? Denn das sind keine Handlungen im Affekt, sondern geplante Taten. Wer tut so etwas? Was geht in einem Mann vor, der es nicht ekelhaft findet, dass andere Männer die Mutter seiner Kinder missbrauchen? Was läuft da schief? Wo fängt diese Tat an? Wann hat er zum ersten Mal daran gedacht? Und immer wieder die Frage: Warum hat er an so etwas überhaupt gedacht? Und es gemacht? Selbst wenn er ein Opfer von Missbrauch gewesen sein soll. Sicher, Sex kennt viele Spielarten, aber das ist kein Sex, das ist ein Verbrechen.
Er hat sich entschuldigt. Bei seiner Ex-Frau und dem Rest seiner Familie. Der 72-Jährige ist geständig, er bestritt nie, seine Frau, mit der er 50 Jahre verheiratet war, mit Betäubungsmitteln bewusstlos gemacht und anderen zum Missbrauch angeboten zu haben. Er wolle den Mut seiner Frau würdigen, sagte er vor Gericht, und dass sie ertragen habe, dass die anderen Angeklagten sie zur Komplizin machen wollten.
Die anderen Täter
Die Männer, 50 an der Zahl aus allen Schichten, Altersklassen und Berufen, die angeklagt wurden, die bewusstlose Frau eines anderen Mannes vergewaltigt zu haben, plädieren vielfach auf Freispruch, und einige können sich der Unterstützung ihrer Ehefrauen oder Partnerinnen sicher sein. Die Ermittler gehen von einer weiteren Anzahl Männer aus, die sich an Madame Pelicot vergangen haben. Trotz der Videos und Fotos konnte ungefähr ein Dutzend noch nicht identifiziert werden.
Sie haben nach Aussagen von Prozessbeobachtern viel getuschelt, manchmal gelacht. Sie sollen sich gemeinsam auf den Weg in die Mittagspause gemacht haben. Vereint in der nach außen vehement vertretenen Aussage, nichts falsch gemacht zu machen. Dass sie einfach nur Teil der perversen Spiele eines nicht mehr ganz jungen Paares waren, die ihr Sexleben pimpen wollten. Fast klingen sie wie Helfer, wie Sexarbeiter. Dass sie ihren eigenen, ungewöhnlichen Neigungen damit nachgeben - aus Neugier - scheint fast zweitrangig. Aber ist es eine normale Praxis, einer bewusstlosen Frau einen erigierten Penis in den Mund zu schieben, bis sie in ihrer Bewusstlosigkeit würgt? In den Augen der meisten wohl eher nicht. Haben die Männer sich dabei auch noch lustig über sie gemacht? Das alles hat sie sich nun auf den Videos, die ihr inzwischen geschiedener Mann von den Episoden gemacht hat, angeschaut. Vor Gericht. Zusammen mit anderen. Zum Teil mit ihren erwachsenen Kindern. Was für eine Stärke muss diese Frau haben?
Die Anklage fordert zwischen vier und 18 Jahren Haft für die Mittäter.
Die Kinder und Enkel der Pelicots
Unfassbar muss das alles auch für die Angehörigen sein: Am letzten Tag der Anhörungen soll Pelicot gesagt haben, dass er seine Familie liebe. Und wie schlimm es für ihn sei, dass er sie nie wieder sehen wird. Drei Kinder, sieben Enkelkinder, die sich fortan damit auseinandersetzen müssen, die Nachfahren eines Sexualstraftäters zu sein, der sich an ihrer Mutter und Großmutter vergangen hat. Und unter Umständen auch ihnen, den Kindern und Enkelkindern.
Merci an Madame Pelicot, dass sie Opfern ein Gesicht, eine Stimme gegeben hat. Dass sie geradesteht für die, die es (noch) nicht können. Dass sie das durchgehalten hat. Merci auch an ihre Familie. Wie gut, dass sie hinter ihr stand und steht. Hoffentlich können sie alle nach dem Prozess nun Kraft sammeln, um sich auch weiterhin gegenseitig beizustehen und ein liebenswertes Leben zu führen.
Gisèle Pelicots Tochter, Caroline Darian, hat ein Buch geschrieben: "Und ich werde dich nie wieder Papa nennen" und einen Verein gegründet #mendorspas - betäube mich nicht. Angeblich haben sich Mutter und Tochter gestritten wegen Carolines Behauptung, der Vater hätte sie als Teenagerin betäubt und missbraucht.
Frankreich
Dass Gisèle Pelicot es geschafft hat, über die Landesgrenzen hinweg die Scham auf die richtige Seite zu transportieren, nämlich auf die der Täter, und nicht die der Opfer. Das Gesicht der Landesfigur Frankreichs, der Marianne, sollte in Zukunft das Antlitz Gisèle Pelicots tragen.
In Frankreich wird im Justizministerium und von Frauenverbänden darüber diskutiert, ob es in Zukunft eine Regelung zur ausdrücklichen Zustimmung bei sexuellen Handlungen geben sollte. Das Problem der Vergewaltigung unter Drogen sei unterschätzt worden und auch die Tatsache, wie viele Männer oder Partner zum Täter würden, so einer der Anwälte von Gisèle Pelicot gegenüber Zeit Online.
Die Welt
Nicht nur Frankreich nahm Anteil am Pelicot-Prozess, auch in vielen anderen Ländern wurde er intensiv verfolgt. Hat es etwas genutzt? Nur ein einziger Blick in die USA zeigt: wenig. Ein verurteilter Frauenbelästiger wird der nächste Präsident der Vereinigten Staaten, junge amerikanische Männer skandieren "Your Body, My Choice" und meinen damit, dass sie die Hoheit über die Körper von Frauen haben. Und weiterhin behalten werden. Schlechter kann es nicht laufen. Diese Männer kommen zum Teil aus "guten Elternhäusern", haben Ausbildungen genossen, und sind dennoch der Meinung, dass sie bestimmen können, ob eine Frau ein ungewolltes Kind austrägt oder nicht. In welcher Welt leben wir? In welcher Welt wollen wir leben?
Männer
Es gibt noch viel zu tun. Solange Fußballweltmeisterschaften in Ländern ausgetragen werden, die Menschen- und damit auch und vor allem Frauenrechte mit Füßen treten, scheint Hopfen und Malz verloren. Müssen wir deswegen bis nach 2034 warten? Nein, denn es bedeutet nicht, dass alles, was bisher erreicht wurde, umsonst war. Es bedeutet nur, dass der Kampf der Frauen noch immer nicht beendet ist. Es bedeutet, dass Männer noch viel lernen müssen. Nicht alle. Aber die, die für Frauen sind, müssen sich noch mehr für Frauen einsetzen als bisher und daran mitarbeiten, die anderen auf ihre Seite zu bekommen, sie zu Frauenverstehern machen, im besten Sinne.
Frauen
Müssen weiter machen! Geht wählen! Jetzt! In Deutschland. Ihr könnt niemanden wählen, der euch nicht will. Niemanden, der Schwierigkeiten mit Frauen hat. Der oder die Frauen in alte Rollen zurückschicken will. Der für Frauen keine Verwendung hat. Der die Schuld, wenn etwas nicht funktioniert, ausschließlich in der Tatsache sucht, dass - beispielsweise - ein Amt von einer Frau bekleidet wurde. Ganz so, als wären Männer noch nie in Ämtern gescheitert.
Justiz
Stéphane Babonneau und Antoine Camus sind bereits seit über drei Jahren die Anwälte von Giséle Pelicot und dürften in Zukunft sehr viel mehr zu tun haben: Bisher blieben in Frankreich 94 Prozent aller Anzeigen von weiblichen Gewaltopfern ohne Folgen. Das wird sich, auch dank der Anwälte Gisèle Pelicots, nun sicher ändern, da Justiz, Polizei, Kranken- und Frauenhäuser schneller und besser zusammenarbeiten wollen.
"Madame Pelicot, ich empfinde tiefen Respekt für Sie und für alles, wofür Sie stehen, für Ihre Würde. Das sollten Sie wissen, und das wird immer so bleiben." Das sagte Béatrice Zavarro, Dominique Pelicots Anwältin, nach ihrem Schlussplädoyer zu Gisèle Pelicot.
Dominique Pelicot dankte seiner Verteidigerin, denn ohne sie hätte er aufgegeben. Da dies als ein Zeichen der Feigheit gedeutet worden wäre, habe er durchgehalten, sagt er, pathetisch bis zum Schluss.
Béatrice Zavarro soll die Einzige gewesen sein, zu der Dominique Pelicot in den dreieinhalb Jahren seiner Isolationshaft Kontakt hatte, niemand hätte ihn besucht, sagte sie "Zeit Online" gegenüber.
Dominique Pelicot erwartet grundsätzlich eine Haftstrafe von 20 Jahren. Das Urteil wird an diesem Donnerstag oder spätestens am Freitag erwartet.
Quelle: ntv.de