Panorama

Elizabethanische Ära endet Sie war auch unsere Königin!

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Ja, sie war unser aller Königin.

(Foto: REUTERS)

Statt über ein Reich zu herrschen, repräsentierte "die Queen" eine Welt, die auch unsere war. Nicht nur, dass die Bundesrepublik Deutschland und das "Zweite Elizabethanische Zeitalter" beinahe in dieselbe Zeit fielen. Wir konnten von ihr lernen. Eigentlich immer. Nun nicht mehr. Grund, zu rekapitulieren.

Ernst Kantorowicz, ein aus Deutschland stammender Geschichtswissenschaftler, hat erklärt, jeder König – und jede Königin – besitze zwei Körper: einen biologischen, den man auch als "privat" und "intim" bezeichnen kann. Er blutet und schwitzt, isst und scheidet aus, pflanzt sich fort und lebt mit den Hoffnungen und Ängsten, die sein Hirn mit unzähligen anderen Gedanken und Trieben produziert. Und wie jeder Körper stirbt er an seinem Ende alleine. Der zweite Körper ist der offizielle. Er hat entmenschlichte, soziale und zeitlose Eigenschaften:

1. Er lebt länger als der biologische Körper und schafft mit seiner Geschichte eine Erinnerung.

2. Er ist kein Privateigentum, sondern gehört in einer abstrakten Weise dem Volk – Englisch: subjects – sowie ihrem Staat und ihrer Nation.

3. Er bildet das Herz der Institution Königtum. Durch sie, so Kantorowicz, konnte sich seit dem Mittelalter erst der Staat und später die Vorstellung einer Nation entwickeln.

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Überall auf der Welt wird sie vermisst werden.

(Foto: AP)

Als das Buch "Die zwei Körper des Königs" erschien, zählte die Welt bereits das Jahr 1957 nach Jesus Christus – für das Christentum übrigens der größte König aller Zeiten. Zugleich war es das fünfte Jahr, nachdem Prinzessin Elizabeth von England am 6. Februar 1952 ein globales, damals über 32 Länder verteiltes Königtum geerbt hatte. Während ihrer Krönung am 2. Juni 1953 wurde ihr privater Körper symbolisch in öffentliches Eigentum gewandelt – wie von Kantorowicz beschrieben und vergleichbar mit der Wandlung von Wasser zu Wein, die in der christlichen Vorstellung König Jesus zugeschrieben wird.

Der Glaube an Elizabeth II. hielt mehr als 70 Jahre an. Ihre durch und durch mittelalterliche Krönung, die selbst für damalige Verhältnisse anachronistisch, also aus der Zeit gefallen erschien, kann man auf Youtube sehen. Das liegt daran, dass die Zeremonie zum ersten Mal im Fernsehen übertragen wurde. Das Zeitalter der Massenmedien war "in full swing", wie man auf Englisch sagt – und es hatte durch die Königinnenwerdung Elizabeths einen zusätzlichen Schub bekommen, nicht nur im Commonwealth, der Erbengemeinschaft des British Empire, sondern auch bei uns.

Schon immer war die Sichtbarkeit von Menschen ein Machtfaktor. Die Medien haben ihn massiv verstärkt. Für konstitutionelle Monarchen, deren wahre Macht längst bei "ihren" Parlamenten und Regierungen liegt, ist das Fluch und Segen zugleich:

1. Im Sinne der "zwei Körper" hat der Glaube an die Krone im 20. Jahrhundert Konkurrenz bekommen. Indem Medien Menschen hervorbringen, die ein privates und ein öffentliches Leben führen, sind sie gewissermaßen kleine Könige. Ihr Königreich wird "Öffentlichkeit" genannt – und spätestens mit der Digitalisierung steht sie jedem Menschen offen. Wer teilnimmt, besitzt zwangsläufig eine private "Person" und eine öffentliche "Persona" – so wird es in der Psychologie analog zu Kantorowicz unterschieden. Während viele Menschen wahnsinnige Schwierigkeiten haben zwischen ihrer privaten und der öffentlichen Sphäre zu unterscheiden (und erstere zu schützen), wird der Unterschied echten Königskindern von Geburt an eingebläut.

2. Die Königskinder lernen, dass sie beides sind: Royals in einem Königreich und Celebrities in einer (Welt-) Öffentlichkeit. Das schafft neben der traditionellen Gefolgschaft ihrer subjects eine neue Basis von Anhängern, für die nationale Grenzen keine Rolle mehr spielen – die Fans and Followers. Im britischen Fall geht der Wirkungskreis weit über das angestammte Inselreich im Nordwesten Europas und über die 53 Partnerstaaten im Commonwealth hinaus. So interessieren sich für die britische Königsfamilie viele Menschen in den USA, aber auch in Deutschland. Oft ist eine Erklärung dafür im "fehlenden Glanz" von Republiken und ihrem Personal gesucht worden. Das erscheint mit Blick auf unseren Kanzler oder seine Vorgängerin plausibel, überzeugt aber weniger, wenn man nur die enorme Aufmerksamkeit bedenkt, die das "Star couple" Obama auf sich zieht.

Charles, typisch britisch?

Das ausgeprägte Interesse der deutschen Bevölkerung am britischen Königshaus ist immer wieder mit seiner deutschen Abstammung begründet worden. Dabei ist das Bewusstsein dafür unter den Kommentatoren und Kommentatorinnen wahrscheinlich größer als im Publikum. Obwohl es zutrifft, dass mit "Mountbatten-Windsor" ein teils deutscher Name an der Königsfamilie haftet – weil er vor 1917 "Battenberg" lautete und aus dem Hessischen stammte –, tragen die deutschen Wurzeln keine erkennbaren Früchte der Identifikation. Weder lassen sich Heerscharen von Fans in Hessen oder im Schwäbischen um die Burg Teck, noch in Schleswig-Holstein ausmachen, wo das Haus Sonderburg-Glücksburg beheimatet ist, aus dem Prinz Philip, der Gatte von Elizabeth II. stammte.

Tatsächlich könnte man den neuen König Charles III. durch seinen Vater als einen Monarchen deutscher Herkunft bezeichnen. Doch spricht er nicht nur besser Französisch als Deutsch. Umfragen zeigen auch, dass er hierzulande durch den seit Jahrzehnten prächtig sichtbaren, privaten Lebensstil wenig einlädt zur Identifikation. Charles wird als abgehoben elitär, sprunghaft und umtriebig, reiz- und streitbar, ironisch und meinungsfreudig empfunden, kurz: britisch und – typisch oder nicht – exzentrisch und hochnäsig. Er mag die Vorfreude auf eine abwechslungsreiche und verhältnismäßig kurze wie intellektuelle Regentschaft wecken, aber er hat auch viele Gründe geliefert – nicht zuletzt durch ominöse Barspenden von mehreren Millionen Pfund an seine Stiftung –, das glanzlos-langweilige Personal in der ersten Reihe der Bundesrepublik zu loben.

Es hat andere Gründe, dass sich Millionen von Menschen auch bei uns persönlich angesprochen, menschlich ergriffen und sogar körperlich berührt fühlten, wenn Queen Elizabeth II. auftrat. Der Autor selbst hat es im Jahr 2000 während der Eröffnung des britischen Botschaft in Berlin erlebt.

Fürchte dich nicht

Trotz ihrer abgehobenen Stellung hat sie nicht nur unzähligen Menschen die Hand geschüttelt, sondern ihnen auch tief in die Augen geschaut. Statt dabei Herablassung und Arroganz zu versprühen, gelang es der Queen, Wärme und Menschlichkeit auszustrahlen. Während diese Begegnungen völlig unverbindlich waren, entstand doch eine Verbindung. Es waren flüchtige Momente, in denen sie gewissermaßen aus ihrem offiziellen Körper heraus eine Botschaft übermittelte, die an alle Menschen gerichtet war – und die man als "privat" bezeichnen kann, weil sie nur von Mensch zu Mensch verstanden wird: "Fürchte Dich nicht!"

Wir kennen diese Worte aus der Bibel – von Jesus. Es sind Worte, die Sicherheit und Zugehörigkeit suggerieren und die die Bereitschaft des Königs oder der Königin zur absoluten Aufopferung voraussetzen. Elizabeth II. hat sie wohl genauso wenig wörtlich gesagt wie sie wiederauferstehen wird, aber sie vermochte ihrem Gegenüber das erforderliche Mitgefühl zu zeigen – indem sie etwas von sich preisgab. Es ergab sich aus ihren zwei Körpern: ihrer biologischen Existenz und ihrer symbolischen Präsenz. Je älter Elizabeth II. wurde, desto mehr war der Preis zu spüren, den sie privat tragen musste – und um den sie zu bemitleiden war. Andererseits überzeugte die Dividende ihrer langen Regentschaft mit jedem weiteren Jahr ein bisschen mehr.

Dabei erforderte es nicht unbedingt eine persönliche Begegnung, um diese Botschaft zu empfangen. Nicht erst anlässlich ihres Todes wird betont, wie viel "Kontinuität" sie verkörpert habe. Doch was bedeutet das – vor allem in den viel beschworenen Zeiten des Wandels? Sie lassen sich für die vergangenen 70 Jahre reklamieren – die zunächst als "Nachkriegszeit" bezeichnet wurden und die sich im Rückblick beinahe vollständig mit der bisherigen Existenz der Bundesrepublik Deutschland decken.

Was man in realen wie medialen Begegnungen mit der Queen erleben konnte, war weder die Aura einer Lichtgestalt noch die Gefallsucht eines Weltstars. Vielmehr war es die Hoffnung und die Verletzlichkeit einer außergewöhnlichen Person, die als junge Frau den Zweiten Weltkrieg erlebt hatte: einen Krieg der Nationen, der Völker und der Königreiche. Daraus zog sie Lehren, die bis heute für uns alle gelten. Mag ein Teil ihrer ganz privaten Hoffnungen für uns auch eine sehr fern gewesen sein – weil sie auch der Mehrung und Sicherung des Reichtums ihrer Dynastie galt –, so teilen wir doch ihren generellen wie einfachen Wunsch nach Stabilität und Frieden. Die Prinzipien der Versöhnung und der Verständigung, die sie 70 Jahre öffentlich vor, haben sie in unzähligen realen wie medialen Begegnungen glaubwürdig gemacht.

Je länger Elizabeth II. lebte, desto universeller erschienen ihr Auftrag und ihr Amt. Mochten sich ihre Zeremonienmeister gerade in den letzten zehn Jahren auch noch so bemühen, Elizabeth mit Pomp und Circumstance besonders britisch wirken zu lassen, erschien sie in Wahrheit immer weniger britisch. Das lag im Wesentlichen daran, dass sich ihre Ausdauer, ihr Pflichtbewusstsein und ihre Langlebigkeit genauso wenig einer einzigen Nation zuschreiben lassen wie die Sehnsucht der Menschheit danach.

Königin Elizabeth war die einzige Person auf Erden, die seit 1945 annähernd jeden einflussreichen Menschen treffen und ihre zutiefst menschlichen Einsichten als Grundsätze ihres Königtums vermitteln konnte. In dieses "Zweite Elizabethanische Zeitalter" fällt auch die Rehabilitierung Deutschlands und die längste Friedensphase Europas. Alleine diese Koinzidenz hat sie für uns zu einer einmaligen Identifikationsfigur gemacht.

So gut wie keine Fehler

Prinzgemahl Albert, der deutsche Mann von Königin Victoria, soll gesagt haben: "Die Wertschätzung eines Königtums ist nur durch den persönlichen Charakter des Souveräns möglich." Bis zum 8. September 2022 waren es längst nicht nur glühende Verehrer von Elizabeth II, die betont haben, dass es ihr gelungen sei, das Private aus dem Amt herauszuhalten und sich keiner Verfehlungen schuldig zu machen. Wie leicht ein Körper im Privaten und Intimen durch ein reiches Leben dazu verleitet werden kann, hat nicht zuletzt ihr Sohn Andrew demonstriert.

Die Redaktion des "Guardian", die den Traum von einer Republik Britannien stets am lautesten geträumt hat, gab Elizabeth II. zu ihrem 80. Geburtstag im Jahr 2006 die Bestnote: "Sie hat ein halbes Jahrhundert eine anspruchsvolle Aufgabe erfüllt ... und dabei so gut wie keinen Fehler gemacht. Nach gängigen Kriterien – ihre ungebrochene Popularität und ihre Fähigkeit Probleme zu vermeiden – sollten sie als eine der fähigsten Politikerin gelten, während sie genau das gar nicht ist." Warum? Weil Politiker von ihren Versprechungen leben und weil sie in relativ kurzen Amtszeiten tatsächliche Macht besitzen. Die Queen hat hingegen nie etwas versprochen. Und sie ließ die viele Zeit, die sie hatte, verstreichen ohne einen Fehler zu machen.

Sie lebte vielmehr von und mit dem Schicksal, keine operative Macht zu besitzen und nicht sehr viel selbständig entscheiden zu können. Dadurch war sie auf andere angewiesen – 12 britische Premierminister und 3 -ministerinnen, sowie viele Menschen innerhalb und außerhalb ihres de jure schrumpfenden Reichs.

De facto ist ihr Reich jedoch im Laufe von gut 70 Jahren immer größer geworden. Nicht zuletzt, weil eine ihrer ungeschriebenen Aufgaben darin bestand, auch unsere Königin zu sein.

Das Individuum und die Institution der Königin sind nun nicht mehr in einem Körper vereint. Die Menschen im Vereinigten Königreich werden bald ihre biologischen Überreste zu Grabe tragen. Die Erinnerung an diesen besonderen Menschen bleibt uns unterdessen allen gemeinsam.

Quelle: ntv.de

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